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Der herrsche, wer Herrscher ist

"Deine Herrschaft ist von ihrer Untertänigkeit! Hüte dich aber vor dem Tag, da sie erwachen und erkennen und verstehen werden, welch ein Übel deine Herrschaft wahrlich ist" sagte der Philosoph zum Herrscher. 

In allen Gesellschaften und zu allen Zeiten gab und gibt es Anführer und Gefolgsleute. Ihr Verhältnis zueinander ist nicht immer harmonisch.

Es kam der Tag, da versammelte Urich die Männer seines Volkes um sich und sprach zu ihnen: "Seht, ich bin euer Herrscher von Stund an bis zu dem Tag, da ich sterben werde. Und ihr seid mein Volk und mir Gehorsam schuldig." Betroffen gingen die Männer auseinander, und die Weisen unter ihnen berieten, was zu tun sei.

Es kam der Tag, da traten die Männer vor ihn hin und einer aus ihrer Mitte fragte ihn: "Urich, warum bist du der Herrscher und nicht ein anderer von uns?" Urich lachte, sprang von seinem Thron herab. Er packte den, der gesprochen hatte, und schleuderte ihn durch die weite Halle, wo er herrschte, auf dass der Mann tot zu Boden stürzte. "Ich herrsche, weil ich der Stärkste bin!" rief Urich.

Betroffen gingen die Männer auseinander, und die Weisen unter ihnen berieten, was zu tun sei. Es kam der Tag, da traten die Männer vor Urich hin und fragten ihn: "Urich, soll immer der von uns der Herrscher sein, der die größte Stärke besitzt?" Unter ihnen aber befand sich einer, der war gewaltig an Kräften. Urich schwieg eine Weile und blickte in die Runde. "Nein," sprach er sodann. "Derjenige soll herrschen, der die größte Weisheit bewiesen hat. Und habe ich nicht die größere Weisheit gehabt, da ich erkannte, warum ihr hergekommen seid und welche Worte ihr hören wolltet, um mich zu vertreiben von meinem Thron, der mir gebührt? Ich herrsche, weil ich der Weiseste bin." Betroffen gingen die Männer auseinander, und die Weisen unter ihnen berieten, was zu tun sei.

Es kam der Tag, da traten die Männer vor Urich hin und fragten ihn: "Urich, soll immer der von uns der Herrscher sein, der die größte Weisheit sein eigen nennt?" Unter ihnen aber war einer, der kannte alle Geheimnisse der Natur, die Länder und Meere der Welt und die Sterne am Himmel. Urich sprach mit seiner Greisenstimme:"Derjenige soll herrschen, der die ältesten Augen hat. Und meine Augen haben euer aller Geburt geschaut. Wer also könnte herrschen denn ich?" Betroffen gingen die Männer auseinander, und die Weisen unter ihnen berieten, was zu tun sei.

Es kam der Tag, da starb Urich. Sein Sohn Enoch versammelte die Männer seines Volkes um sich und sprach zu ihnen: "Seht, ich bin nun euer Herrscher, wie mein Vater es war. Mir nun seid ihr schuldig den Gehorsam bis zu dem Tag, an dem ich sterben werde." Betroffen gingen die Männer auseinander, und die Weisen unter ihnen berieten, was zu tun sei.

Es kam der Tag, da traten die Männer vor Enoch hin und fragten ihn: "Enoch, warum bist gerade du unser Herrscher?" Enoch sah sie an und sprach:"War nicht mein Vater euer Herrscher? Ich bin euer Herrscher, weil mein Vater vor mir euer Herr war." Bestürzt gingen die Männer auseinander, und die Weisen unter ihnen berieten, was zu tun sei. Es kam der Tag, da traten die Männer vor ihn und fragten ihn: "Enoch, soll immer ein Sohn Urichs unser Herrscher sein?" Einer von ihnen aber führte ein Knäblein an der Hand, unmündig, schwach und blöde. Es war dies der jüngste Sohn Urichs, ein Bruder Enochs. "Ihr sprecht wahr. Doch nicht ein beliebiger Sohn kann Herrscher sein. Der älteste Sohn eines jeden von euch wird eines Tages Patriarch eurer Familie. Wie also könnte ein anderer als der Patriarch der edelsten und ältesten Familie euer Herrscher sein?" Betroffen gingen die Männer auseinander, und die Weisen unter ihnen berieten, was zu tun sei.

Es kam der Tag, da traten die Männer vor Enoch hin und fragten ihn: "Enoch, soll immer der Erstgeborene der ältesten Familie der Herrscher sein?" Unter ihnen war wohl aber einer, der stammte aus einer Familie, die konnte ihren Stammbaum bis in die Urzeiten des Reiches benennen; solches vermochte Enoch nicht. "Es ist nicht der Menschen Wille, wer der Herrscher eines Volkes sein soll, sondern es ist der unabänderliche Ratschluss der Götter. In ihrer Allmacht sind sie unzweifelbar und für die Sterblichen nicht begreifbar. Aber ihr Wille ist Befehl. Und war es nicht ihr Wille, dass ihr zu mir kommt und mir Fragen stellt, und eine jede wusste ich recht zu beantworten. Geht nun und belästigt die Götter nicht länger mit eurem Geschwätz!" Über alle Maßen verzweifelt gingen die Männer auseinander, und die Weisen unter ihnen wussten nicht, was zu tun sei, denn wider der Götter Macht war der Menschen Tun und Streben machtlos.

Und es geschah in jenen Tagen, dass ein Weiser und Philosoph in die Stadt kam, wo Enoch herrschte. Als die Menschen hörten, wie weise und klug er sei, da gingen sie zu ihm und klagten ihm ihr Leid: "Wir wollen keinen Herrscher. Wir sind seiner überdrüssig. Nie zuvor ward unser Volk von einem einzelnen Mann beherrscht. Hilf uns, ihn von seinem Thron zu stürzen."

So geschah es. Der weise Philosoph trat vor den Thron des Herrschers hin und fragte ihn: "Ich höre, du herrschst in dieser Stadt, weil du ein Sohn Urichs seiest?" "Du sprichst wahr, alter Narr," entgegnete Enoch. "Wie kannst du dir so sicher sein, dass der, den du deinen Vater nennst, es auch wirklich ist?" fragte der Philosoph weiter. "Willst du das Ansehen meines Vaters schänden, indem du den Sohn beschimpfst?" ergrimmte sich Enoch. "Nein, dies ist nicht mein Ansinnen. Doch sage mir, weißt du wirklich ganz sicher und aus dir heraus, wessen Sohn du bist?" beharrte der Weise auf seiner Frage. Enoch überlegte eine Weile, dann sprach er: "Du sprichst wahr. Kein Sohn kann sagen, wessen Vaters Sohn er ist." Der Weise nickte und fragte nun: "Ich hörte, du herrschest, weil du der Erstgeborene deiner Familie zu sein glaubst?" "Du sprichst wahr, alter Mann." "Wie kannst du wahrhaft sicher sein, der Erstgeborene zu sein, da du nicht einmal zu sagen weißt, ob du deines Vaters Sohn bist?" Wieder Überlegte Enoch eine Weile, dann gab er zu: "Du sprichst wahr, weiser Mann." Da hob der Weise die Hände zu Himmel und rief: "Ich hörte, du herrschest über diese Stadt, weil die Götter deine Familie dazu ausersehen haben, dies Amt zu erfüllen?" "Du sprichst wahr, großer Mann." Der Philosoph breitete die Arme aus und schleuderte Enoch entgegen:"Wie kannst du die Wünsche der Götter auf deine Familie und deine Person beziehen, da du nicht einmal sicher sagen kannst, ob du überhaupt dieser Familie angehörst? Und noch eines sage ich dir: Es gibt keine Götter, die einen Menschen ausersehen, über andere Menschen zu herrschen!" Enoch schwieg. "Ich frage dich nun: Worauf gründest du deine Herrschaft über diese Menschen?"

Lange dachte Enoch nach, dann antwortete er: "Du hast in allem wahr gesprochen, Philosoph. Und ich will dir Antwort geben auf deine Fragen. Ich herrsche, weil ich der Herrscher bin. Und Herrscher bin ich, weil es Beherrschte gibt! In jedem Menschen steckt der Wunsch, zu einem anderen aufschauen zu können, von einem anderen beherrscht zu werden. Es ist der natürliche Sinn der Dinge, dass es Herrschaft gibt. Die Natur herrscht über die Erde, die Sonne über die Gestirne. Ich herrsche über diese Menschen. Ich tue dies, weil sie einen Herrscher brauchen, denn was sind Beherrschte ohne einen, der sie beherrscht? Also bin ich dieser Herrscher!"

Da wandte sich der Philosoph an das versammelte Volk und sprach:"Geht nach Hause und lasst euch beherrschen! Dieser Mann ist ein wahrer Herrscher, der erkannt hat, dass Herrschaft aus sich selbst heraus geboren wird und ausgeübt werden muss. Geht nach Hause und fügt euch seinen Worten, denn sie sind recht! Sein Wort soll fortan euer Gesetz sein und seine Gnade eure Barmherzigkeit. So geht denn und haltet Frieden!" Die Männer gingen auseinander und sprachen kein Wort.

Und als sie alleine waren, sprach der Philosoph zum Herrscher: "Du hast eine wahre und gute Antwort gegeben. Nicht dein Name oder deine Erstgeburt und nicht der Götter Wille haben dir deine Herrschaft verliehen, sondern nur du alleine. Herrsche, weil du herrschst! Nicht wirklich wollten sie deine Herrschaft abschütteln. Nicht die Herrschaft war ihnen ein Gräuel, sondern nur, dass sie selbst nicht befähigt sind zur Herrschaft. Sie fragten dich, warum du der Herrscher dieser Stadt bist, und sie glaubten deiner Antwort, denn sie wollen glauben. Sie sind schwach und unfähig zur Macht. Wenn sie stark wären, würden sie deinen Thron umwerfen und dich verlachen. Du herrschst, weil sie beherrscht sein wollen. Deine Herrschaft ist von ihrer Untertänigkeit! Hüte dich aber vor dem Tag, da sie erwachen und erkennen und verstehen werden, welch ein Übel deine Herrschaft wahrlich ist!"

Da lachte Enoch und erwiderte: "Niemals werden sie erwachen, noch jemals gegen meine Herrschaft rebellieren!"

"Niemals ist in keiner Zeit, und was in dieser Zeit geschieht, vermag kein Mensch zu sagen," sprach der Philosoph und verließ die Stadt.

Copyright Michael Bross 1979 

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