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Entschuldigen Sie, sind Sie ein Mensch?

Was würden Sie antworten, wenn - sagen wir am L`arc de Triomphe oder auf dem Marienplatz oder am Trafalgar Square oder sonst irgendwo mitten in einer großen Stadt - was also würden Sie sagen, wenn ein sechs Meter langes, auf sechs Beinen daherstakendes, orange-violett gestreiftes Krokodil auf Sie zukäme, den gewaltigen Rachen öffnete, nicht um Sie zu verschlingen, sondern um mit einer lächerlichen Piepsestimme zu fragen: "Entschuldigen Sie, sind Sie ein Mensch?"

Der Angestellte mit der etwas schief hängenden roten Krawatte schielte nur kurz zu dem Frager hin, dann eilten er und sein Begleiter unbeteiligt weiter. Erst ein paar Meter weiter bemerkte der Angesprochene zu dem zweiten Mann: "Diesen Werbefuzzies fällt aber auch immer wieder was Neues ein!"

"Jaja," maulte der Prokurist im mausgrauen Anzug. "Wahrscheinlich grinst uns das Vieh heute abend beim Essen aus dem Fernseher an. Es steigt dann in eine Waschmaschine und kommt zehn Sekunden später wieder raus und ist reinweiß!"

"Scheiß-Werbegag!" schloß der erste Mann.

"Meinst du, man kann darauf reiten, Mami?" fragte das kleine Mädchen. Ängstlich zerrte die Mutter das Kind aus dem Bereich der furchterregenden Schnauze und antwortete: "Das glaube ich kaum, mein Schatz."

Hastig entfernte sie sich, das Kind mit sich ziehend und einen letzten furchtsamen Blick über die Schulter werfend. Dass die Stadtverwaltung es einfach duldete, dass wilde Tiere frei herumliefen - skandalös!

Der zusammengekauerte Mann mit dem schmutzigen Bart, der schon seit ewig langer Zeit neben dem Eingang zu dem großen Kaufhaus saß, blickte ein zweites Mal hin, wischte sich über die Augen. Als die Erscheinung dann immer noch nicht verschwunden war, begann er zu zittern. Er packte die neben ihm stehende gewaltige Zwei-Liter-Flasche, schleuderte sie von sich, sprang auf und heulte: "Oh, mein Gott! Ich verspreche es, ich trinke nie wieder! Nie wieder!"

Mit den Armen fuchtelnd rannte er davon, sich panisch und grob seinen Weg durch die Menge der Flanierenden bahnend. Zurück blieben die Scherben der zersprungenen Flasche und eine große Rotweinlache, ein Stück einer alten zerfetzten Matte, auf der der Mann gekauert hatte, und das aus einem alten Karton gefertigte Schild mit der Aufschrift: "bitte eine kleine Spende für einen der nicht gehen kann  danke"

Der Schwarzgekleidete sah nur kurz hin, schlug hastig ein Kreuzzeichen, blickte nochmals auf den Frager und murmelte dann: "Weiche von mir, Satan!"

Eilig verließ er den Ort seiner Versuchung.

Der Student glotzte den Frager mäßig interessiert an, wandte sich dann an seine Freundin und flachste: "Ich kenne Grünalternative, und violett ist die Farbe der Emanzen. Und die Kombination aus beidem sind grün-violette männerhassende Umweltfreaks. Aber was bedeutet gelb-violett?"

Die Studentin rammte ihrem Begleiter den von einem selbstgestrickten grün gemusterten Pullover umhüllten Ellbogen in die Seite und deutete einen Tritt gegen das Schienbein an, das violette Stiefelchen anmutig schwingend.

"Grün-violette, männerhassende Umweltfreaks! Ich werd« dir helfen, du Chauvi-Sack!"

Lachend und kichernd zog das Pärchen Arm in Arm von dannen.

Der Redner auf dem Podest hielt erstaunt inne, warf das Manuskript seiner ziemlich lahmen Rede von sich. Sein Zeigefinger stach anklagend in Richtung auf das Krokodil.

"Seht ihr es, Genossen?" brüllte er dann. "Es trägt die Farben seiner Loyalität auf der Haut! Orange und violett, die Hausfarben der unsere Stadt ausbeutenden und verpestenden 3-X-Gesellschaft. Genügt es der herrschenden Klasse ausbeuterischer Unterdrücker nicht, dass sie den Arm des Arbeiters entwerten, indem sie ihn durch Roboter ersetzen? Ist es nicht genug für die unterdrückende Klasse herrschender Ausbeuter, den Geist der arbeitenden Klasse zu korrumpieren, indem sie Computer bauen lassen, um die Geistesarbeit zu tun? Es genügt ihnen nicht! Die ausbeutende Klasse unterdrückender Herrscher bringt jetzt schon den Tieren das Sprechen bei, bemalt sie mit den Farben ihrer volksverdummenden Werbung und tritt auch die letzte Bastion der werktätigen Bevölkerung mit Füßen: ihre Selbstachtung. Setzen wir uns zur Wehr! Verjagen wir die ausbeuterische Klasse herrschender Unterdrücker, bevor ihre tierischen Sklaven uns von diesem Planeten tilgen, damit die selbstreproduzierende Akkumulation von Kapital ungestört von Menschen ablaufen kann. Genossen, erhebt euch ...!"

Ypsllspy wurde sehr traurig, als er all die Antworten auf seine einfache Frage hörte und wandte sich von der belebten Straße im Herzen der Großstadt ab. Er wanderte durch die Seitenstraßen, wo Schmutz und Unrat den rissigen Straßenbelag überdeckten, wo hungernde Augen aus den toten Höhlen der Fenster lichtloser Ruinen zerbrochener Träume gleichgültig seinen Weg verfolgten. Ypsllspy verließ die Erde in seinem gläsernen Raumschiff, und er nahm die Botschaft und seine Geschenke für die Menschen wieder mit. Sie wurde nicht bestellt, die Botschaft des umfassenden Friedens des Menschen mit sich selbst, seinen Nachbarn und seiner Welt. Die Geschenke wurden nicht verteilt, auch nicht das Serum, das alle Krankheiten zu heilen vermag.

Als er einen kurzen Blick zurückwarf durch die gläserne Wand seines Raumschiffes und den im All schwebenden, blau-weiß gemaserten Planeten noch einmal betrachtete, da bedauerte er seine Abreise.

"Es ist eine so schöne Welt," seufzte er. "Schade, dass keine Menschen auf ihr wohnen."

Copyright Michael Bross 1982

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