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Eine Stadt

Eine Stadt

Was geschieht eigentlich, wenn zwei an sich unvereinbare Wesenheiten aufeinanderprallen? Das ist nicht vorhersagbar. Aber die beiden Kontrahenten zu beschreiben, ihre Charaktere auszuleuchten, die Bühne für das Unbeschreibliche zu bereiten - das ist durchaus möglich. Vorhang auf für eine kleine Stadt und ihren Antagonisten ...

Man nannte ihn Beorulf. Niemals stritt er ab, so zu heißen, niemals stimmt er zu. Man sagte, er sei der Sohn eines Grafen. Man sagte, er komme aus dem Westen, von jenseits der Nebelberge. Niemals äußerte er sich dazu. Beorulf.

Manche sagten, sein Vater habe ihn verstoßen. Manche sagten, eine Hexe habe an seiner Wiege böse Flüche gemurmelt. Manche sagten, er sei mit dem Teufel im Bunde. Manche sagten gar, er sei der Leibhaftige selbst. Aber niemals sprach man solches, wenn er in der Nähe war. Beorulf.

Manche sagten, er verspeise kleine Kinder. Manche sagten, er hasse alles Leben. Manche sagten, er sei ein lebender Toter. Beorulf. Sein Name verbreitet Schrecken. Beorulf.

Er hasste alle Vögel, denn die kleinen Sänger waren für ihn ein Inbegriff von Freiheit und Glück. Glück, das er nie fand - Freiheit, die er zu vernichten trachtete. Wo immer er eines der kleinen Tiere erblickte, da griff er zur Schleuder und bereitete dem Gefiederten ein Ende. Er hasste alle Hunde, denn sie sind ihrem Herrn in aufrichtiger Liebe zugetan. Aufrichtigkeit, die er für Schwäche hielt - Liebe, die er nur als ihr Gegenteil kannte, den Hass. Wo immer er eines Hundes habhaft wurde, da packte und erdrosselte er ihn. Beorulf.

Seine einzigen Freunde waren die Geier und Wölfe, denn wohin immer er seinen Fuß setzte, da hatten sie einen reich gedeckten Tisch. Beorulf.

Er verstreute die Knochen seiner Gegner in alle Winde, und die Priester, die kamen, um die Toten zu ehren und zu bestatten, erschlug er und ließ ihre Kadaver pfählen. Beorulf.

Niemals sah man ihn lachen. Beorulf.

Schön war seine Gestalt, ebenmäßig und kräftig. Sein Haar war von goldener Farbe, und seine großen Augen schienen aus geschmolzenem Silber gegossen zu sein. Seine Haut hatte die satte Farbe von Bronze. Ein ewiges Lächeln bedeckte seine Züge, aber nichts Herzliches sprach aus diesem Lächeln. Es war das zynische Grinsen des Teufels selbst. Wohin er auch kam, nur Schrecken und Verzweiflung zeichneten seinen Weg. Jeder Platz, den er betreten hatte, wurde nach seinem Verlassen zu einer Stätte des Bösen, wo die Dämonen ihre schaurigen Orgien feierten. Aber selbst diese Finsterlinge der Hölle fürchteten Beorulf. In den Landschaften und Orten, die er auf seiner Wanderung verschonte, verbarrikadierte man Haus und Hof, wenn sein Name fiel. Niemand dachte je daran, jenen Beistand zu geben, die von seiner üblen Gegenwart heimgesucht wurden. Und die Menschen, die davon hörten, dass er ihr Gebiet verließ, rannten zu den Tempeln und Kirchen und opferten ihren Göttern. Beorulf.

Sein Name hallt zu uns herüber, Über die Äonen hinweg, als ein Name voll dunkler Macht und Verderbtheit. Er kannte nichts Schönes, nur Hässliches säumte seine Wege. Beorulf.

Schrecken und Leid verbreitete er um sich. Wo immer er auch seinen Fuß hinsetzen mochte, Not und Verderben ließen nie lange auf sich warten. Beorulf.

Beorulf!

*

An einem kleinen Fluss lag eine namenlose Stadt, eher nur ein großes Dorf, denn nur wenige hundert Menschen lebten dort. Nicht groß an Fläche lag diese Siedlung eingebettet in eine sanfte Landschaft. Im Osten des Ortes erstreckte sich ein dunkler Wald von Zedern und Pinien bis an den Horizont. Von schweigender Majestät war dieser Wald. Wenn die Städter gelegentlich einige Bäume fällten, so machte es für die Erhabenheit des Waldes keinen Unterschied. Rund um den Ort lagen die Felder der Bauern; zwei Ernten gediehen dort jedes Jahr. Jegliches Korn und Gemüse wurde geerntet, und jeden Tag sah man die Männer mit den Gespannen und Werkzeugen hinaus aufs Feld ziehen. Zwischen der Stadt und dem Fluss lagen die Weiden. prächtiges Vieh stand dort und nährte sich und gab Butter, Milch, Käse und Fleisch, das die Menschen nährte. Alle Bewohner der kleinen Stadt hatten ihr Auskommen und waren zufrieden. Im Frühjahr, sobald die Straßen begehbar waren, brachen die wenigen Händler auf, um in der nächsten großen Stadt auf dem Markt zu handeln, zu verkaufen, was die Handwerker erzeugt hatten, und einzukaufen, was die Bewohner benötigen mochten. Die Straßen der Stadt waren eng und winkelig, aber sauber und sicher, denn es gab kein Gesindel am Orte. Die Häuser standen dicht aneinander gedrängt, doch was ihre mangelnde Größe nicht zu vermitteln vermochte, das tat ganz sicher die Bemalung der Fassaden. Hier sah man die Werkzeuge des Hufschmiedes an die Wand gepinselt, dort ein Mühlrad, das Zeichen der Goldschmiede oder das eines Bäckers oder Schlachters. Am Feiertag strömten die Bürger in den Tempel mit der goldenen Kuppel und den Malereien im Inneren, hin zu den Priestern in den dunklen Gewändern. Nach dem Gebete begaben sich die Männer zu den Schänken, die Frauen und Kinder aber nach Hause. Im gewaltigen Haus zum Adler hielt der Rat seine Sitzung. Heute sind seine Mitglieder die Oberen der Stadt, schon morgen aber kehren sie zu ihrem angestammten Gewerbe Zurück! Ein jeder konnte vor den Rat treten und die Stadtoberen als Richter anrufen, und sie entschieden Über Recht und Unrecht. Mit im Raume stand der Büttel, der Sorge zu tragen hatte, dass die Sprüche auch eingehalten wurden. Während der Werktage war er der Nachtwächter der Stadt, am Gerichtstag nur bekleidete er sein hohes Amt. An seiner Seite stand der Hauptmann der Ein-Mann-Armee der Stadt. Er war ein alter Krieger, der vor vielen Jahren an einem Kriegszug nach Osten teilgenommen und dem ein wilder Kampfer des Feindes die Hand abgeschlagen hatte. Und doch war er noch immer gefürchtet in der Stadt, denn er vermochte mit Speer und Schwert, Schleuder und Dolch umzugehen - und was der Mordwerkzeuge mehr waren. Seine Aufgabe war es, jeden Abend bei Sonnenuntergang das einzige Stadttor zu schließen und es am anderen Morgen wieder zu öffnen. Am Abend eines jeden Feiertages war Tanz auf dem Marktplatz. Dann konnten die jungen Burschen und die Mädchen Für einen Abend sich austoben bei Gesang und Tänzen, derweil die Alten dem lustigen Treiben zusahen, mit dem reifen Lächeln der Weisheit im Gesicht und der Sehnsucht nach jungen Knochen im Herzen. Die jungen Mädchen waren frech und lustig, die Jungen kräftig und nicht weniger ausgelassen. Jedes Jahr im ersten Frühlingsmonat feierte man ein großes Fest zu Ehren der Fruchtbarkeit der Felder. Eine ganze Woche lang wurde nicht gearbeitet, wurde nur gelacht und getrunken, getanzt und getafelt. Jedes Jahr, wenn die Saat ausgebracht, wenn man ein wenig verschnaufen konnte in der mühsamen Feldarbeit, räumte man die gute Stube aus, damit alle Verwandten und Freunde darin Platz fänden. Reihum feierte man erst beim einen, dann bei den anderen. Am letzten Abend der Festwoche zogen die Kinder verkleidet durch die Straßen und erpressten von den Großen ein Lösegeld in Form von Süßigkeiten. War die ausgelassene Woche vorbei, so stand man mit dem Sonnenaufgang vor dem Tore, damit man gleich hinaus konnte, sobald der Hauptmann geöffnet hatte. Man ging wieder früh zu Bett, damit man am anderen Morgen frisch zu seinem Tagewerk aufbrechen konnte. Am Feiertag besuchte man den Tempel und nachher das Trunkhaus, der Rat versammelte sich und sprach seine Urteile. Die Händler handelten, die Handwerker werkelten, ein jeder Bauer bestellte seine Äcker - alles bewegte sich im Gleichmaß der Dinge. Das Rad der Zeit schien sich ganz langsam und ebenmäßig zu drehen. Friede herrschte zwischen den Feldern und in dem Wald, der gutmütig auf das geschäftige Treiben herüberschaute. Friede herrschte in der Stadt, ruhige Gemeinsamkeit.

*

In diese Stadt kam Beorulf ...

Copyright Michael Bross 1977

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