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Gespräche mit dem Bruder

Wie lernt man etwas über seine Mitmenschen? Durch Nachdenken. Aber besonders viel kann man erfahren, indem man mit ihnen spricht. Manche Gespräche sind Realität, andere finden nur in Gedanken statt. Wer kann das schon auseinanderhalten?

I

Meinen Bruder sehe ich vor dem Spiegel stehen, und ich frage ihn: "Bruder, was betrachtest Du in eitler Wonne Dein Gesicht und Deinen Leib?"

Die Haare striegelt er sich und den Bart stutzt er, duftende Wässer schüttet er über sich und lacht.

"Das verstehst Du nicht, kleiner Bruder," spricht er sodann.

"Was ist es, das ich nicht zu verstehen vermag?"

"Nun sieh," erklärt er mir," heute ist Festtag, und da will ich mittun und fröhlich sein!"

Da entgegne ich: "Hier zuhause bist Du fröhlich, ohne Dein Haar zu bürsten, den Bart zu stutzen und ohne duftende Wässer. Wo also liegt der Unterschied?"

Ein gelinder Missmut ob meiner Fragereien stiehlt sich in die antwortende Stimme: "Es ist nicht um meinetwillen, sondern wegen der Menschen, die auf dem Fest sein werden."

"Die Menschen also wollen, dass die anderen sich striegeln und ihr Haar glänzt wie das Fell eines Pferdes, und duften muss der Bursche wie der Mutter Blumengarten, damit er bestehen kann vor den Augen der Menschen?"

Da lacht er und ruft: "So ist es!"

Und er springt von dannen, dem Fest und den Menschen entgegen.

In meiner Seele aber macht sich eine tiefe Traurigkeit breit, denn ich kann nicht verstehen, dass nur auf der äußeren Gestalt der Blick der Menschen ruhen soll, dass nicht ein wenig auch ihr Auge in die Tiefen des Herzens zu dringen vermag. Arm ist es um die Welt bestellt, wenn der Starke und Gute im Herzen diese seine Stärke und Güte nicht zeigen darf, sondern geckenhaft sich kleidet und eitel sein Bild verschönt, auf dass man seiner mit einem wohlgefallenden Lächeln harre.

II

Der Bruder half einem Freund bei seiner Arbeit. Nach getanem Werk sehe ich sie beieinander sitzen und miteinander sprechen. Mir scheint, sie handeln gar! Und da zückt der Freund die Geldbörse, und Geld zählt der Schamlose dem Bruder auf den Tisch. Doch was geschieht? Schon streckt der Bruder die Hand aus und gierig rafft er den Lohn in seine Tasche.

Später, als wir alleine, frage ich meinen Bruder, warum der Freund ihn in barer Münze entlohnte.

"Ach sieh," spricht er daraufhin. "Du kennst den Wert des Geldes nicht. Alles vermag ich mir damit zu kaufen, Güter und Arbeit."

"Und was tust Du, wenn der Freund Dir bei Deiner Arbeit hilft?"

"Ich zahle ihm einen gerechten Lohn."

"Er bezahlt an Dich, und Du bezahlst, was Dir gegeben ward, an ihn zurück? Warum bezahlt ihr euch gegenseitig eure Hilfe? Ist er nicht Dein Freund?"

"Nicht den Freund bezahle ich," entgegnet da der Bruder. "Den Arbeiter entlohne ich, der seine Kraft mir für einen Tag geliehen hat."

"Aber kannst Du den Freund nicht bitten, Dir zu helfen, weil er Dein Freund ist?"

"Und dann schulde ich ihm einen Dienst! Und er kommt und fordert ihn zur unrechten Zeit! Was dann? Lasse ich mein eignes Tagwerk im Stich und gehe mit ihm, so ist meine eigene Arbeit nicht getan. Weise ich ihn aber von mir, so verliere ich einen Freund. Entlohne ich ihn aber für seinen Dienst, so kann er sich einen anderen zu Hilfe holen, welchem er dann das Geld gibt. Und keiner muss dem anderen Gram sein."

Da ging ich in den Garten und sprach zu den Sträuchern und Obstbäumen: "Wie klein muss ihre Freundschaft sein, dass ein jeder nur an seine Arbeit denkt und nicht um der Hilfe Für den Freund willen sein Werk Für einen Tag zurückstellen mag."

Doch kaum war mit solchen Gedanken mein Hirn voll, da erkannte ich auch schon den Irrtum, dem ich erlegen war. Nichts hatte das alles mit dem Tagewerk oder der Arbeit oder dem Geld zu tun, sondern nur um der Illusion ihrer Freundschaft willen war es, die auf schwachen Füßen stehend von keinem der beiden auch nur der geringsten Belastung ausgesetzt werden sollte, auf dass dies Trugbild nicht dahinschwinde und gleich einem Krug in tausend Scherben zerspränge.

III

Von dem Buch, in dem er liest, schaut er auf und murrt: "Glückliche Welt, schreibt dieser Dichter!"

Da frage ich ihn: "Was quält Dich, Bruder?"

"Was ist Glück?" fragt er mich daraufhin.

"Das Gegenteil von Unglück," entgegne ich.

"Wohl wahr, aber was ist Glück?" fragt er erneut.

Einen Augenblick lang muss ich wohl überlegen, dann jedoch sage ich: "Wir haben Glück - wir leben. Andere sind gestorben."

Bitter entgegnet er da: "So ist Glück also nichts anderes, als die Abwesenheit von Unglück, von Schmerz und Trauer? Dann sollte ich wohl glücklich sein!"

Einen Gedanken lang schweigt er, dann ruft er aus: "Aber ich bin es nicht!"

Als ich darauf nichts zu sagen weiß, fährt er fort: "Glück, das ist nichts anderes als die Projektion Deiner selbst auf Deine Umwelt. Jenes Gefühl, das alle Menschen zu Deinen Freunden werden, die ganze Welt in bunten Farben erstrahlen lässt. Eigentlich sollte ich glücklich sein!"

Höhnisch tropfen die nächsten Worte von seinen Lippen: "Bin ich glücklich? Natürlich nicht! Die Projektion meiner selbst nach außen ist gestört."

Erstaunt und ohne Möglichkeit der Erwiderung lausche ich dem, was nun folgt.

"Wenn aber mein Glücksgefühl so leicht zerstört werden kann," spricht mein Bruder, "dann ist es nicht wert, erhalten zu werden. Man muss sich selbst erkennen und aus der Erkenntnis leben, die man aus der logischen Selbstbetrachtung gewinnt."

"Wie aber willst Du das so verachtete Glücksgefühl überwinden?" wage ich einzuwerfen.

"Sei aus Dir selbst heraus glücklich, aber auf der Ebene der Logik, glücklich auf der Ebene des Geistigen. Lasse den Gefühlsmatsch hinter Dir, streife ihn ab, wie die Schlange sich ihrer überflüssigen Haut entledigt, aus der sie herausgewachsen ist. Lerne und erkenne die Logik als einzig und ausschließlich dazu geeignet, die liederlichen Klippen unseres Daseins zu umschiffen. Alles andere bringt Dir glanzvolle Falschlösungen. In unserer rationalen Welt packe dieselbe nur mit der Vernunft, mit Logik - universell, immer gleich, unwandelbar. Logik und Vernunft werden Dich niemals enttäuschen."

Eine Weile denke ich darüber nach, was mein Bruder mir geschildert hat. Schließlich gebe ich es auf, denn ich kann nicht verstehen, wie er in wahrer Absicht sein Inneres von den Gefühlen, die in seiner Brust leben, zu befreien trachten kann und doch ein Mensch zu bleiben vermöchte. Wonach er sucht, ist mehr zu sein als ein Mensch - um den Preis, weniger zu sein, als er selbst ist. Warum strebt er danach, sich eines Teiles seiner selbst zu entledigen? Schlägt man die linke Hand ab, nur weil sie weniger geschickt ist als die rechte? Warum also will er seine Gefühle von sich werfen, da sie doch Teil seiner Menschlichkeit sind? Aber als ich ihn solches fragen will, da sehe ich, dass er bereits aus der Stube gegangen ist, um in dem nahen Wald mit seiner Seele Qual und Düsternis zu ringen.

Copyright Michael Bross 1978 - 1985

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