Skip to main content

Ritter ferner Tage

Ritter ferner Tage

Ritter gab es nicht nur im finsteren Mittelalter in Europa. Auch in einer vielleicht nicht so lichten Zukunft könnten sie eine bedeutende Rolle spielen.

I

Wenn man an einem klaren Tag von den Gipfeln des Arvalan Richtung Sonnenaufgang schaut, so kann man in großer Entfernung gerade noch das grüne Meer Tarlon erkennen. Ein schmaler Strand, der vor der Hochebene liegt, begrenzt unsichtbar die Tarlon-See. An einer Stelle zieht ein weites Trockental, welches nur zu gewissen Zeiten im Frühjahr Wasser führt, zum Meer hin. Dort, wo das Tal den Rand der Hochebene durchbricht, liegt Sirjos, die kleine, schmutzig graubraune Hafenstadt des Landes Taltyn.

Von Sirjos aus, dem Tal folgend, zieht sich ein schmaler Waldstreifen zum Arvalan hin, geht dort in die lichten Wälder der Berghänge über. Jener Galeriewald ist von derselben graubraunen Farbe wie der Steppenboden der Hochebene, denn jede Nacht treibt der Karfan, der trockene, kalte Nordwind aus dem Lande Arsis, gewaltige Staubwolken über die Ebene; dieser Staub färbt den Wald. Im Süden des Waldes, im dürftigen Windschatten gegen den Karfan, zieht sich ein schmaler Streifen grüner Felder hin, selten unterbrochen von den Gehöften der Landbevölkerung.

Auf halbem Weg zwischen dem Gebirge und Sirjos erhebt sich, eine halbe Stunde Fußmarsches vom Flusstal entfernt, ein flacher Hügel, der trotzdem die Hochebene und den Wald überragt. Auf der vom Nordwind abgewandten Seite ducken sich die kleinen, elenden Häuschen der Stadt Tirlor - wie Küken unter die Flügel der Henne - unter die mächtigen Mauern der Feste Trylon, der Stammburg des ruhmvollen Ritterordens von Carendish. Ein holpriger Weg, ausgefahren von unzähligen Wagenrädern, windet sich vom Tal durch die Felder zum Hügel hin. Dort, am Fuße des Hügels von Trylon, gabelt er sich. Hält man sich rechts, so erreicht man alsbald die Stadttore von Tirlor, wählt man den Abzweig zur Linken, so gelangt man, durch Wiesen und ärmliche Äcker hindurch, hinauf zu den Mauern Trylons.

II

An dieser Weggablung verhielt ein Reiter und schaute zur Festung hinauf. Sein Reittier war müde und ließ den Kopf hängen, der Reiter selbst starrte erschöpft und ausgelaugt, seine brennenden Augen vom Staub verkrustet und blutrot unterlaufen von zersprungenen Äderchen. Das Alter des Mannes vermochte man nicht zu schätzen, denn er war von hagerer Gestalt, und ein faltiges Gesicht lugte an wenigen Stellen zwischen den langen, verfilzten Haarsträhnen und dem wilden Bart hervor. Der Mann war in ein rotes Wams gehüllt und trug Reitsandalen. Über seiner Brust kreuzten sich breite, lederne Waffengurte. Auf dem Rücken trug er den Chaldomera, jenen kleinen, runden Schild mit dem geheimnisvoll funkelnden Metallzapfen in der Mitte. In der rechten Hand hielt er die lange Lanze der Ritter, und sie war schwarz von geronnenem Blut. Über der ganzen Gestalt lag ein feiner, graubrauner Staubschleier, der alle Farben seltsam verzerrte. Eine kleine Windbö wirbelte Staub auf, der in feinen Schlieren über den Boden zog, den Mantel des Ritters ein wenig flattern machte.

Der Reiter trat seinem Tier in die Seite, worauf es sich langsam und schwerfällig in Bewegung setzte, den Hügel hinauf, der Feste Trylon entgegen. Der Mann hatte kein Auge für die verkommenen Häuser von Tirlor, die von hier aus zu sehen waren, noch bemerkte er die Armut der Felder, die kaum mehr als verdorrtes Gestrüpp trugen. Er starrte hinauf zu der grauen Majestät der Festung seines Ordens. Über der Hauptburg hing das ehrfurchtgebietende Banner schlaff und leblos, bisweilen vom schwachen Windstoß erfasst und für kurze Zeit ausgebreitet, drei goldene Adler zeigend, die aus ihrem blutroten Feld auf die Ebene niederstoßen sich anzuschicken schienen.

Der Reiter näherte sich nun der Rampe, die zum äußersten Tor und der ersten Zugbrücke hinauf führte. Die Brücke war herabgelassen, die mächtigen Tore standen weit offen. Befremdet schaute der Reitersmann in die gähnende Öffnung, die von bewaffneten Knechten hätte wimmeln sollen. Mit klappernden Hufen trampelte das Tier über das morsche Holz und trug ihn unter dem Brückenturm hindurch in den ersten Burghof. Eine staubige Düsternis umfing ihn. Das Gesindehaus war verlassen, die Fenster verrammelt, keine Bediensteten arbeiteten, keine Haustiere rannten quietschend und pfeifend umher. Zerbrochene Krüge hielten einsame Wacht, in den Wänden zeigten sich Risse. Der Brunnen war schon lange nicht mehr benutzt worden - die Seilwinde verrostet, die verfaulenden Reste des Schöpfeimers auf dem Brunnengemäuer. Überall lagen verwesende Überreste und Abfälle, nachlässig an die Mauern gehäuft. Es stank nach Fäulnis und Tod. Mitten auf dem Hof lag ein alter, unbrauchbarer Helm.

Der Reiter trieb sein Tier durch das nächste Tor und in den nächsten Hof. Auch hier waren Überall die Spuren des Verfalls sichtbar. Heruntergefallene Dachziegel, morsche Fensterläden, gezackte Risse in den Mauern, und auf den Kaminen siedelten kleine Moospflänzchen.

Das Reittier bewegte sich nun auf die innere Zugbrücke zu, und hier endlich zeigte sich der erste lebende Mensch: ein grober, feister Knecht im roten Wams, mit Speer und Schild bewaffnet, unter dem Torbogen im Halbdunkel lauernd und ergrimmt dreinschauend. Anscheinend wollte er sich damit den Ausdruck kriegerischer Entschlossenheit und Wachsamkeit verleihen. Die Hufe klapperten nun über die Holzbrücke, und der Reiter wurde in die Kernburg hineingetragen. Der Knecht am Tor hielt ihn nicht an, noch fragte er nach des Ankömmlings Begehr. Einige Gestalten lagen schlafend im Schatten eines Hauses. Sonst unterschied sich die innerste Festung nur durch offene Fenster und Türen von den anderen Höfen. Durch vier weitere Tore ritt der Mann, dann stieg er ab und ließ sein Tier trinken. Er selbst ging auf die Cropfta zu, den finsteren Bau im Kern der Anlage, und unter dem Eingang legte er seine Waffen nieder. Dann trat er in das Düster der Halle ein. Das Dämmerlicht verbarg gnädig die ärgsten Spuren des Niedergangs. Trotzdem war nicht zu übersehen, dass die Pracht, die der Ritter noch gekannt hatte, die er bewundert hatte, dahin war. Er schritt durch den hohen Säulengang, und seine Schritte hallten wider, kalt und metallisch; leblos durch die Zeiten.

Vor dem Weißen Heiligtum warf er sich aufs Angesicht. Leise und unter Tränen, die seine Augen gar nicht mehr zu haben schienen, drängte sich ein uraltes Gebet über seine Lippen. Sein Blick heftete sich an den gewaltigen Edelstein, aus dem der Altar gemeißelt war, und mit einem letzten, verzweifelten Stöhnen sank er zusammen.

III

Es war um die fünfte Stunde, als zwölf Männer die Cropfta durch einen anderen Eingang betraten, alle im roten Wams und blauem Mantel. Erstaunen zeichnete sich auf ihren Gesichtern, als sie des zusammengesunkenen Mannes gewahr wurden. Schließlich traten zwei heran und hoben ihn auf. Alle schauten in das fremde Gesicht, aber keiner konnte sagen, wer der Mann war, obwohl er die Kleider des Ordens trug. Da schlug der Fremde die Augen auf, blickte von einem zum anderen, zuerst Staunen, dann Verzweiflung erfüllte sein Züge, den hoffnungsvollen Schimmer bannend, der in seinen Augen aufgeglommen war.

"Zwölf," krächzte er. "Nur noch zwölf!"

Dann sank er in einen ungesunden Schlummer hinweg. Zwei der Ritter trugen ihn aus dem Heiligtum hinaus und übergaben ihn an Knechte, die ihn in eine Zelle brachten. Später kamen andere, wuschen ihn, hüllten ihn in frische Gewänder und legten ihn auf sein Lager zurück, auf dass er gesund werde.

Er erwachte am frühen Morgen, ohne sagen zu können, wie lange er im Bett zugebracht hatte. Die bleierne Müdigkeit war verschwunden, aber die allgegenwärtige Schwäche, die in seinen Knochen residierte, hatte er noch nicht überwunden. Trotzdem öffnete er die Tür seiner Zelle und trat in den Gang hinaus. Durch die schmalen, hohen Fenster drang nur dürftiges Licht herein. Ja, er befand sich in Maldyry, der inneren Burg der Festung Trylon. Hier hatten die Auserwählten gewohnt, die Ritter von Carendish. Er blickte den Gang hinunter und verspürte das Bedürfnis, die Türen zählen zu müssen, doch er wusste, was er erblicken würde: Einhundertundeine Tür zu einhundertundeiner Zelle - für einhundertundeinen Ritter. Weit hinten, am Ende des Ganges, hatten die zehn Ritter der höchsten Stufe - die Cropftiren - und der Großmeister gelebt, in der Mitte, wo er jetzt stand, die Scralon-Ritter und am jenseitigen Ende des Gangs die Angehörigen des Drevyr, die Niedersten der Erhabenen.

Und nun waren es nur zwölf Ritter!

Mühsam schluckte er den neu aufsteigenden Gram hinunter. Der Einsame wanderte durch die verlassenen Gänge, bis er den großen Saal erreichte. Die beiden Flügel des mächtigen Tores standen weit offen; er konnte hineinschauen. Auch hier war alles als damals. Einhundert Stühle mit geschnitzten Rückenlehnen standen an den Längsseiten der gewaltigen Tafel, am oberen Ende aber, dem Eingang zugewandt, erhob sich der thronartige Sessel des Großmeisters. Zwölf Ritter saßen an der Tafel, verloren und klein wirkend. Einer von ihnen hatte gar den Platz des Obersten eingenommen. Als der Fremde die Halle betrat, wurde es ganz still, und alle Köpfe wandten sich ihm zu. Der Ritter am oberen Ende der Tafel fixierte den Neuankömmling mit kurzen, stechenden Blicken und sprach dann:

"Kommt, Ritter! Setzt Euch und nennt Euren Namen und Rang. Stärkt Euch an dem Mahl und berichtet, woher Ihr kommt!"

Der einsame Mann löste sich von der Tür, schritt langsam in den Saal hinein, bis er sich in der Mitte der Tafel befand. Dort setzte er sich auf jenen Stuhl, der ihm vor langer Zeit angewiesen worden war. Dies schien dem Großmeister zu missfallen, denn er zog die Augenbrauen zusammen und, wie ein finsterer Geier blickte er herüber.

"Nun, Ritter, wer seid Ihr?" fragte er streng.

Atemloses Schweigen breitete sich im Raume aus, die Luft selbst schien in Erwartung der Antwort still zu stehen. Der einsame Ritter zuckte zusammen, dann sprach er, und seine Augen funkelten.

"Ich bin Enri da Celcor, Ritter des Scralon und Teilnehmer am Großen Kreuzzug. Ich ward ausersehen, ein Chaldomera zu tragen und gewaltige Waffen, auf dass ich die Ungläubigen niederzuwerfen vermöchte."

Das Schweigen ward darob noch dichter und so sprach Enri da Celcor weiter:

"Vor siebzehn Jahren zogen wir aus dieser Burg fort, reisten über die Tarlon-See und bestiegen die Himmelsdrachen, um zur Heiligen Welt zu ziehen, sie aus den Händen der Ungläubigen und Dämonen zu befreien. Wir stiegen hernieder aus dem Himmel über der Welt und verließen die Himmelsdrachen in jenem Lande, das Nuyoark geheißen wird. Und die Ungläubigen und Dämonen rannten wider unsere Scharen an, wild und von den Teufeln der Sternenhöllen besessen. Aber ER war mit uns! Wir, die Auserwählten und ihre Knechte, jagten sie vor uns her. Aber siehe, für jeden Ungläubigen, den wir erschlugen, erstanden zehn aus dem Blute der Erschlagenen, und die Dämonen verbrannten gar viele der Unsrigen mit ihren Lichtspeeren. Als das Licht des ersten Tages zu verbleichen begann, da brachen sie die Schlacht ab, und wir riefen die Unseren. Welch trauriges Echo fand der Ruf des Horns! Jeder dritte Ritter lag erschlagen, und das Blut der Knechte ward von den Gräsern aufgesogen. Am nächsten Tag aber hatten wir Ruhe. Wir blieben viele Jahre in dem grünen Lande Nuyoark. Kein Ungläubiger und kein Dämon traute sich aus seiner finsteren Höhle, um wider uns zu streiten. Doch eines Tages kam eine große Pest über uns, und die Männer starben wie die Ratten. Und als ob sie just auf diesen Moment gewartet, kamen die Widerlichen aus ihren Löchern hervor und erschlugen die meisten derer, die noch Leben in sich hatten. Nur wenige überlebten das Morden! Der Casario gab den Befehl, die Himmelsdrachen zu besteigen und heimzukehren. Von den Auserwählten von Carendish bin ich der einzige, der zurückkehrt, um die große Aufgabe zu erfüllen. Der Großmeister selbst übertrug sie mir, ehe er in meinen Armen seinen Geist auf die Wanderschaft zu IHM sandte. Ich werde mein Versprechen an einen Sterbenden erfüllen und diesen Orden wieder zu seinem alten Ruhm und zu seiner jetzt verblichenen Macht empor führen. Dann werden wir aufbrechen zur Welt unserer Väter und die geheiligte Erde vom Joch der Ungläubigen und der Besudelung durch die blutigen Dämonen befreien!"

Enri da Celcor sah in die Gesichter der Versammelten. Er entdeckte die Flamme des wahren, frommen Eifers in allen Augen aufglühen, entfacht durch das, was er berichtet hatte.

IV

Ein donnernder Chor hallte durch den Saal. Einhundert Ritter erhoben sich wie ein Mann von ihren Stühlen, der Jüngste von ihnen war erst vor wenigen Stunden in den inneren Zirkel der Auserwählten aufgenommen worden. Sie huldigten dem neuen Großmeister, der soeben den Letzten Willen seines Vorgängers, des Wiederbegründers des Ordens, Enri da Celcor, verlesen hatte.

In einem Sarg aus dunklem Holz lag Enri da Celcor in den Gewölben unter der Cropfta, noch im Tode zeichnete die Befriedigung über den Erfolg sein Gesicht. Er hatte die neuen Ritter zum Kampf wider die die Ungläubigen und Dämonen auf der Heiligen Welt aufgerufen, und sie waren gekommen. Nun folgten sie willig seinem Nachfolger, der an ihrer Spitze aus der Halle schritt. Glitzernde Rüstungen wurden angelegt und Waffen aus den Arsenalen hervorgeholt.

Gegen Mittag fiel die äußere Zugbrücke herab. Angeführt vom Großmeister, verließen die Ritter von Carendish ihre Stammburg. Sie trachteten danach, das Land Taltyn zu verlassen, jenseits des Meeres die Himmelsdrachen zu besteigen und zusammen mit den Kämpfern anderer Orden einen neuen Versuch zu wagen, die Heilige Welt für die Menschen zurückzugewinnen.

Fünfzig Ritterpaare in schillernden Rüstungen verließen die Burg, gefolgt von zweihundert Knechten. Alles war wie beim letzten Mal, vor so vielen Jahren. So glaubten sie zumindest. Aber nur noch die Cropftiren trugen die alten, machtvollen Waffen, die anderen Ritter schwangen stolz die gewaltigen Lanzen, trugen Schild und Schwert.

Sie zogen fort, weit fort - zu den grünen Feldern und Hügeln des Landes Nuyoark, auf der Welt, von der ihre Ahnen einst gekommen waren. Mit ihnen zog auch der jüngste Ritter von Carendish, der erst seit wenigen Stunden zum Kreis der Erhabenen zählte.

V

An der Weggablung hielt ein einsamer Reiter, um die gewaltigen Zyklopenmauern der Festung zu betrachten. Er hatte keinen Blick für die Ruinen der Stadt Tirlor, nur Augen für die Burg. Graubraun hockte das Bauwerk da oben und starrte auf die kahle Hochebene herab, majestätisch in seiner Pracht und stolz in seiner Stärke. Der Reiter trug ein rotes Wams und hatte sich seinen alten, geflickten Mantel von blauem Tuch um die Schultern gelegt, denn es war Winter in Taltyn und der Karfan wehte eisig von Arsis herüber, immer neuen Staub auf die Hochebene werfend.

Das Arvalan-Gebirge war hinter dichten Staubschleiern verborgen, unberührt von den törichten Taten der Menschen, unberührt von der Zeit, unberührt von der Welt.

Auf dem Rücken trug der Ritter den Schild seines Ordens, in der Hand hielt er einen fremden Speer, sein Schwert aber war zerbrochen und stak in der geheiligten Erde von Nuyoark. Ein letztes Mal schaute der Reiter zur Feste hinauf, dann trieb er sein Tier den steinigen Pfad hinan. Sein schlohweißes Haar flatterte im Karfanwind.

Ein alter Mann kehrt heim - der jüngste Ritter von Carendish. Staubschleier verbergen bald seine Gestalt, als er der Burg zustrebt, wie dunkle Schleier des Vergessens bald seinen Geist umhüllen werden. Und auch über die mächtigste aller Festungen dieser Welt senkt sich langsam das Totengewand der Sinnlosigkeit.

Copyright Michael Bross 1980

  • Erstellt am .