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Transparenz versinkt im shit storm

Im Internet und in der Diskussion über seine Nutzung und die Nutzungsrechte kann man viel über die Unduldsamkeit derer lernen, die Freiheit, Transparenz und Offenheit fordern. Beinahe hat man den Eindruck, dass die alten Grabenkämpfe über Kontrolle und Macht zur Kontrolle – die viele Jahre die Diskussionen um die Medien und ihre Nutzung prägten und die durch die schöne neue Welt des www doch überwunden schienen – erneut und in gesteigerter Heftigkeit wieder aufflammen. Aber ist das Nachahmen alter Muster noch zeitgemäß? Oder müssen wir mal einen Rössel-Sprung zur Seite und nach vorne tun? Die Transparenz versinkt sonst im „Shit Storm“ ...

Die umfassende Transparenz wird allenthalben gefordert. Jeder will alles wissen, jeder will zu allem seine Meinung sagen. Und im Internet wird diese aufregend neue Transparenz auch gelebt: Jeder darf bei jedem Thema mitreden. Und schon zeigen sich die ersten negativen Auswirkungen für die Meinungsfreiheit. Die neuen Menschen im Netz nehmen für sich in Anspruch, ihre Freiheit hemmungslos zu verteidigen: Ihre Meinung zählt, alle anderen Meinungen zählen nicht!
Wie kann ich das behaupten? Schauen wir uns einmal die gegenwärtige Diskussion um die Urheberrechte an. Da gibt es die Netzfreaks, die unbedingt Kunstwerke, Musik, Film, Literatur und Bilder (am besten völlig) kostenfrei im Netz verfügbar haben möchten. Und dann gibt es die Urheber und die Rechteverwerter, die für sich das Recht reklamieren, von ihrer Arbeit leben zu können. Die einen propagieren im Netz ihre freie Meinung auf urheberrechtsfreie Kunst und Kultur. Wenn die Schriftsteller und Künstler jedoch anderer Meinung sind, werden sie mit einem „Scheiß-Sturm“ – wie „shit storm“ ja wohl zu übersetzen wäre – überzogen.
Trügt der Eindruck, dass Meinungsfreiheit somit nur noch für die zumeist anonymen „digital natives“ mit der richtigen Gesinnung gilt? Und wir anderen Netzbenutzer müssen uns dem netzaktiven Meinungsdiktat, gespeist aus Gutmenschentum, Vorurteil und Unduldsamkeit unterwerfen und kuschen? Ist es schon so weit gekommen?
Ich hoffe nicht. Das wäre nämlich der Triumpf jener Denkungsart, die sich schon vor ein paar Jahren bei militanten Weltverbesserern andeutete, beispielsweise in Teilen der Ökologiebewegung. Dort gelten Kritiker oder Menschen mit abweichender Meinung als Verrückte, beinahe als geistig gestörte Häretiker. „Klimaskeptiker“ etwa ist ein Begriff, der irgendwo in der Nähe von Wahnsinn oder Krankheit angesiedelt erscheint, nicht jedoch im Refugium abweichender – vielleicht sogar wissenschaftlich begründeter – Zweifel. Schon der Begriff „Abweichler“ ist eine drastische Verurteilung.
Das erinnert an die Gesinnungsdiktaturen früherer Zeitalter, als die Priester, Tempelhüter und Schriftgelehrten über das Gewissen und alle Lebensäußerungen der einfachen Leute wachten. Das geschah natürlich nur zu ihrem Besten, der Rettung des Seelenheils.

Die schöne neue Epoche unbeschränkter Freiheit wird durch shit storms ad absurdum geführt!
Das Netz hat die Chance auf Selbstverwirklichung eines jeden Menschen ungemein gesteigert, weil das Netz die Interessen der Geldgeber, Verleger und die von ihnen eingesetzten früheren Kontrolleure der gedruckten oder gesendeten Medien ausschaltet. Es hat aber auch die Eigenschaft und das Potenzial, eine absolute Meinungsdiktatur anonymer Aktivisten über alle anderen zuzulassen. Es ersetzt das institutionalisierte „Gatekeeping“ – also die mediale Selbstzensur von Redakteuren und Lektoren – durch die Angst vor dem Netz-Pranger und dem anonymen Rufmord.
Wenn wir mit den neuen Freiheiten im Netz, mit den Datenmengen, mit der Offenlegung von allem und über jeden klarkommen wollen, müssen wir auch in ehrlicherem Maße als je zuvor in der Menschheitsgeschichte akzeptieren, dass andere Menschen anderer Meinung sind. Es ist in gar keinem Fall zu dulden, dass mit anonymen „Shit Storms“ und anderen Instrumenten die Meinungsfreiheit unterdrückt und abgeschafft wird.

Eine Kultur der aktiven Ignoranz entwickeln
Wenn wir alles über alle wissen, müssen wir jedoch unbedingt und sehr rasch lernen, „Dinge zu übersehen“ und in einem positiv wohlwollenden Sinne zu ignorieren. Früher hat man alles, was man erfahren hat, sofort gegen denjenigen verwendet. Man lebte deshalb in einer Geheimhaltungsgesellschaft. Was wichtig oder peinlich war, musste verschleiert und mit allen Mitteln vor Nachbarn und Bekannten geheim gehalten werden.
Im richtigen Leben hatten die Japaner früher die Technik partieller Wahrnehmungsdefizite zur Hochkultur entwickelt, um nicht ständig zur Kenntnis nehmen zu müssen, was die auf engstem Raum zusammengepferchten Nachbarn in ihren Papierhäusern so taten. Eine solche „Kultur der aktiven Ignoranz“ und gepflegten Zurückhaltung bräuchte es auch im Netz, wenn wir diese großartige Errungenschaft nicht an Meinungsterroristen verlieren wollen.
Wenn wir nun in einer definitiv offenen Gesellschaft leben, wird dieses Verhalten der Indiskretion und Denunziation, alles was wir erfahren haben, sofort gegen jemanden zu verwenden, irgendwann in naher Zukunft zur absoluten Zerstörung der Integrität unserer menschlichen Kommunikation führen.
Eine schöne Woche wünscht Ihnen / Euch
Michael Bross aus Sindlingen

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