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Vom Wahnsinn des Völkischen

Mal ein paar nachdenkliche und keinesfalls abgeschlossene Gedankenansätze zu einem Problem, das wir in Europa eigentlich für überwunden hielten: Nationalismus in seiner militanten Form.

Im Osten der Ukraine an der Grenze zu Russland erleben wir gegenwärtig den „wahren Sinn" des übertriebenen Nationalismus. 100 Jahre nach Beginn des ersten Weltkriegs würde man nicht glauben, dass mentale Verirrungen in der Form eines Wahnsinns vom Völkischen – wie wir sie gerade live erleben müssen – in Europa noch eine Rolle spielen. Das wirklich Erschreckende daran ist, dass nicht nur lokale Kleingeister die Nationalismuskarte spielen, um sich im Gerangel um Macht, Vorherrschaft und Privilegien einen Vorteil zu verschaffen; auch in den Hauptstädten etlicher Staaten argumentieren die politischen Eliten grotesk nationalistisch, um ihre Mitbürger für ihre Forderungen zu mobilisieren und als Gefolgsleute zu instrumentalisieren.

In der Welt des 21. Jahrhunderts müssten wir eigentlich aufhören, die Staatsbürgerschaft, die eine formale Zugehörigkeit zu einem Staatswesen ist, an die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, also einer Volksgruppe zu koppeln. Religion ist seit vielen Jahren – zumindest in westlichen Demokratien – Privatsache. Die „Volkszugehörigkeit" sollte es auch sein. „Staatsbürgerschaft" ist eine juristische Formalie, man könnte sagen quasi ein Vertrag zwischen einem Einzelnen und der Allgemeinheit. Das verpflichtet den Bürger zu bestimmten Leistungen und verschafft ihm bestimmte Rechte. Seine kulturelle Identität hat damit nichts zu tun. Welche Sprache einer zu Hause mit seiner Familie spricht, welche Kleidung er trägt, welche Speisen er isst und welche Lieder er singt – all das ist Privatsache und sollte dem einzelnen überlassen bleiben. Zu erwarten, dass die Staatsbürger auch allesamt einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund haben – und darum geht es zumeist bei der Diskussionen um Nationalismen –, ist absolut hinterwäldlerisch und offenbart eine Geisteshaltung von vorgestern. Regierungen, Obrigkeiten, Bürokratien und Gesellschaften müssen endlich anerkennen, dass die Menschen nicht dem Kollektiv gehören. Menschenrechte definieren die Rechte des Menschen an sich selbst; sie sind keine Eigentumsrechte einer Familie, eines Clans oder einer Nation an den Individuen.

In Osteuropa und auf dem Balkan spielt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe allerdings immer noch eine große Rolle. Historisch haben einzelne Gruppen daraus ihre Identität hergeleitet. Eine andere Sprache, andere Gebräuche, besondere Trachten und möglicherweise auch Diätvorschriften – solche Besonderheiten begründen oftmals das Gefühl, völlig andersartig zu sein als die Menschen in der näheren (zudem oft als feindselig wahrgenommenen) Umgebung. Aus der Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe, einem Stamm oder einer Nation (die nichts anderes ist als ein riesengroßer Stamm) wurden im Laufe der Geschichte häufig Sonderrechte und Privilegien abgeleitet. Umgekehrt galt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe immer wieder auch als Rechtfertigung, diese Menschen zu unterdrücken, zu missbrauchen und zu versklaven.

In einem modernen Europa sollte die Staatsangehörigkeit eine im Prinzip freiwillige Entscheidung des Bürgers sein (die oft genug deshalb so gefällt wurde, weil die Eltern entschieden haben), aber keine weitergehende Verpflichtung zu einem bestimmten, durch religiöse oder kulturelle oder vermeintlich völkische Zugehörigkeiten erzwungenen Lebenswandel enthalten. Und die Staatsbürgerschaft bedeutet keinesfalls „Eigentumsrechte" der jeweiligen Obrigkeit an ihren Bürgern. Genauso wenig begründet umgekehrt die ethnische Zugehörigkeit oder die kulturelle Identität einzelner Menschen für fremde Regierungen irgendwelche Fürsorgepflichten, sich um diese Bürger anderer Staaten „kümmern" zu müssen. Wenn es keine Bürger erster und zweiter Klasse (definiert durch Religion, Sprache oder was auch immer) in einem Staat gibt, dann gibt es für die Machthaber umliegender Länder auch keinen Anlass mehr, vermeintliche Minderheiten andernorts zu unterstützen und gegen das dortige Staatswesen aufzuwiegen.

Die Idee vom „Staatsvolk" – also jene Identität von formaler territorialer Organisation mit einer biologisch definierten Gruppe – war schon immer schwachsinnig, aber in der globalisierten Moderne ist sie auch ethisch, juristisch und ökonomisch völlig abstrus. Solange sich aber Menschen in einem Staat als unerwünschte Ausländer fühlen und möglicherweise von der Mehrheitsgesellschaft auch so behandelt werden, bleiben die Türen offen für die Einflussnahme jener Regierungen, die nur allzu gerne in der Nachbarschaft intervenieren, häufig genug, um von den eigenen inländischen Problemen abzulenken.

Natürlich gibt es all diese Probleme auch in anderen Ländern, auf anderen Kontinenten. Das Erbe der Kolonialmächte in Afrika ist dort stets präsent. Und dient wohl mancherorts dazu, von der Unfähigkeit der lokalen Machthaber, die Lebensumstände der Menschen zu verbessern, abzulenken. Auch dort wäre es logisch und menschenwürdig, nationale und völkische oder kulturelle Besonderheiten nicht mehr zu missbrauchen, um andere zu unterdrücken.

Man wird die Welt nicht an einem Tag retten, aber es wäre schon viel gewonnen, wenn wir in Europa beginnen würden, die ethnische Zugehörigkeit eines Menschen als seine Privat-Sache zu betrachten.

 

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