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Das Boot ist voll?

Hier mal ein paar noch unfertige Gedanken zu einem selbstreferentiellen System, das uns überhaupt nicht weiter bringt: "Das Boot ist voll!"

Das Boot ist voll, deshalb kann niemand mehr an Bord genommen werden. Beim Untergang eines Schiffes mag diese schreckliche Situation auftreten, in der ein Rettungsboot bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Die Insassen haben dann natürlich um des eigenen Lebens willen kein Interesse daran, weitere Rettungsbedürftige an Bord zu nehmen. Schließlich könnte das Boot dann mit ihnen allen sinken. In dieser Grenzsituation menschliche Erfahrung kann es also notwendig werden, andere zum Tode zu verurteilen, um selbst zu überleben. Das ist grausam.

Das Bild vom überfüllten Rettungsboot wird aber auch gerne politisch bemüht, um die Ängste der Gesellschaften in den industrialisierten Staaten vor Zuwanderung aus ärmeren Welt-Gegenden als notwendigen Abwehrkampf fürs eigene Überleben zu stilisieren. Gerade so, als sei der Wohlfahrtsstaat westlicher Prägung ein löchriger Kahn, auf dem eng zusammengepfercht die Insassen vor dem Untergang zittern.

Die Botschaft dieser Metapher: der Wohlfahrtsstaat wird überlastet, wenn zu viele Fremde kommen, die sich hierher retten und ein besseres Leben beginnen wollen. Dann ist auch für die, die schon vorher da waren, nicht mehr genug zum Verteilen vorhanden. Warum wird eigentlich immer unterstellt, dass die Neuankömmlinge nur darauf gieren, den anderen etwas wegzunehmen? Warum glaubt niemand daran, dass die Zuwanderer auch einen positiven Beitrag zum Fortschritt der heimischen Wirtschaft leisten könnten?

Werden womöglich unbewusst die eigenen schäbigen Wünsche nach einem anstrengungslosen Einkommen und der Widerwille, für das eigene Leben selbst zu sorgen, auf die Zuwanderer projiziert? Da man selbst keine Initiative mehr aufbringt, sich den Wandel nicht zumuten will und einen Neuanfang nicht zutraut, sondern lieber bewegungslos im gemachten Nest sitzen bleibt, unterstellt man allen anderen, dass sie genauso denken. Da mit einer solchen Geisteshaltung auch kaum Fortschritte zu erzielen sind, kein Staat zu machen ist, werden Menschen, die so denken, andere hier nicht haben wollen. Da sie keinen Optimismus und keine Zuversicht haben, dass Dinge besser werden könnten, bringen sie auch keine Initiative auf, nach neuen, besseren Möglichkeiten des Lebenswandels zu streben. Wer ganz fest davon überzeugt ist, dass der Kuchen nicht vergrößert werden kann, der will auch keine zusätzlichen Mitesser, die seinen Anteil schmälern.

Aber der Vergleich hinkt: Ein Boot hat in einer gegebenen (Notfall-) Situation tatsächlich nur eine begrenzte Aufnahmefähigkeit. Für einen Staat gilt das nicht; man könnte ihn umbauen, man könnte seine Kapazitäten vergrößern, man könnte ihn neu gestalten. Man könnte auf Fortschritt, Wandel und Wachstum setzen, damit für alle mehr da wäre.

Das Problem scheint zu sein, dass dieselben Leute, die nicht vom Nutzen der Zuwanderung überzeugt sind, auch nicht glauben mögen, dass ein Wandel des Staates mit einen entsprechenden Zuwachs der Kapazitäten möglich ist. Wer selbst von den Zuwendungen des Staates abhängig ist, sich nicht verändern will oder nicht verändern kann, wer in jedem Wandel nur eine Gefährdung seiner lieb gewordenen Privilegien sieht, der wird niemals erkennen können, dass Zuwanderer auch Chancen eröffnen.

Risikoscheu und Veränderungsängste, Fantasielosigkeit, der Wunsch nach Privilegien-Sicherung und die intellektuelle Früh-Vergreisung sowie Fremdenfurcht – das sind die Zutaten des Märchens vom vollen Boot. Dabei ist dass Boot doch nur deshalb voll, weil wir uns nicht vorstellen wollen, dass man ein größeres bauen könnte, in dem mehr Leute Platz finden.

 

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