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Streiten, nicht kuschen

Der umfassend informierte Bürger war – manchmal Wunschtraum von Philosophen, häufiger Albtraum der Obrigkeiten – wohl zu allen Zeiten bloße Illusion. Nicht jeder Mensch interessiert sich für alles. Nicht alles ist für jedermann ohne entsprechende Vorbildung verständlich. Selbst Experten überblicken heutzutage nur mehr Teilgebiete ihres jeweiligen Fachs. Die Beschäftigung mit Literatur, Wissenschaft und Politik steht zudem für viele Menschen in Konkurrenz zu den Widrigkeiten des Alltags, die stets dringend zu bewältigen sind. Warum und wie sollte also ein „Normalbürger“ umfassend informiert sein? Die Intendantin des Mitteldeutschen Rundfunks, Karola Wille, beklagte jüngst in einem Zeitungsbeitrag die in letzter Zeit immer häufiger festzustellenden Grenzverschiebungen und Tabubrüche, den Werteschwund und die Ignoranz gegenüber Fakten. Unserer Gesellschaft drohe der „Geltungsanspruch der Wahrheit durch belegbare und weithin akzeptierbare Tatsachen“ abhanden zu kommen. Ihre drastische politische Schlussfolgerung: „Nicht der fehlinformierte, sondern nur der umfassend informierte Bürger ist demokratiefähig.“ (Karola Wille, FAZ 28.12.2017)
Noch deutlicher wird Carlo Strenger, wenn er konstatiert, dass „heute selbst in hoch entwickelten westlichen Staaten eine Mehrheit der Bürger nicht länger über die intellektuellen Ressourcen“ verfüge (oder sie nicht mehr anwende), die für eine verantwortliche Meinungsbildung nötig seien. (Carlo Strenger: Zivilisierte Verachtung, 2015)
Da sind sie wieder: Die Kritik an einer Gegenwart, die sich nicht als nahtlose Fortschreibung der Vergangenheit verstehen lässt. Der Vorwurf, das Internet in seinen verschiedenen Spielformen trage die Schuld am Verfall der guten Sitten – diesmal im Bereich der Kommunikation, Meinungsbildung und des öffentlichen Diskurses.

Dass Digitalisierung und Internet unsere Kommunikation massiv verändern, erleben wir alle in jeder Minute. Aber machen wir uns nichts vor: Das Internet hat die menschliche Kommunikation nicht schlechter gemacht, es offenbart nur schonungslos, wie miserabel viele Menschen informiert sind und welche bösen Gedanken sie haben. Zu allen Zeiten wurde in allen gesellschaftlichen Schichten gehetzt, gelästert, schwadroniert, gelogen und verurteilt. Des Bauern Tratsch war die Intrige der besseren Leute.
Andererseits eröffnet das Internet uns heute die Möglichkeit, fast jeden Sachverhalt selbst recherchieren zu können. Vor noch nicht allzu langer Zeit musste der Bürger – wenn er nicht monatelang in Bibliotheken zubringen wollte – bei ganz vielen Dingen auf andere vertrauen: Kirche, Partei, Nachbarn, Honoratioren, Lehrer – ein solches persönliches Netzwerk half dabei, die Komplexität des modernen Lebens zu reduzieren. Wer ausgefallene Interessen hegte, musste mit Gleichgesinnten langwierige Briefwechsel führen. Heute findet man seine „Brieffreunde“ im Netz; auch wenn sie am anderen Ende der Welt leben, findet man Rat quasi sofort. Amtliche Quellen, Lexika, Wissenschaft, Statistiken, Ratgeber – was immer man sucht, es wird für die Neugierigen rund um die Uhr in der aktuellsten Version dokumentiert.
Noch vor ein paar Jahren hieß es: Was nicht in der Zeitung steht, hat nicht stattgefunden. All das Stammtischgepolter fand keinen Widerhall in der veröffentlichten Meinung. In die Zeitung, ins Radio oder gar ins Fernsehen kam nur, was die Faktenprüfung durch den Redakteur bestand. Man kann das eine Form nichts-staatlicher Zensur nennen: Denn selbstverständlich hatten diese Menschen – die sog. Gatekeeper – ihre persönlichen und berufsspezifisch erlernten „Wahrheitsfilter“, bekamen Vorgaben von Intendanten, Herausgebern oder Chefredakteuren gemacht und wurden von Kollegen sozialisiert. Öffentliche Wahrheit war, was Köpke & Co. verbreiteten. Selbst die Bild-Zeitung und ihre Verwandten vom Boulevard respektierten bestimmte politische und gesellschaftliche Tabulinien, die sie in der journalistischen Arbeit nicht überschritten.
Das ist im 21. Jahrhundert anders: Im Internet kann jeder jeden Mist verbreiten. Was Trolle heutzutage dort schreiben, verschwand in Zeiten des Leserbriefs sang- und klanglos im Papierkorb der Redaktion. Aber heute kann jeder sehen und lesen, welche Vorurteile, Hasstiraden und „Fake News“ durch die Gesellschaft kursieren. Oder sich in seine „Blase“ hineinkuscheln, die es ihm ermöglicht, mit der großen weiten Welt in Kontakt zu sein, ohne über den eigenen bescheidenen Horizont jemals hinaus schauen zu müssen.
Rückblickend betrachtet konnte sich die deutsche Nachkriegsgesellschaft somit dafür loben, dass bestimmte unangenehme, ekelhafte oder dumme Themen (vermeintlich) nicht stattfanden. Öffentliche Kommunikation war weitgehend professionell und weitgehend staatstragend – jedenfalls konnten wir uns einbilden, die öffentliche Meinung und der stattfindende Diskurs seien an Fakten und Werten orientiert. Da nicht umfassend dokumentiert wurde, welchen Unsinn manche Leute von sich gaben, durfte sich das politische und gesellschaftliche Establishment in der Sicherheit wiegen, dass Schulbesuch und „aufgeklärte“ Medien zu einer friedfertigen und vernünftigen Gesellschaft beitrugen.

 

 


Politik ist Mehrheit, nicht Wahrheit
Diese Grundmuster der Kommunikation ändern sich natürlich nicht, wenn wir uns in die Sphäre des politischen Alltagsgeschäfts begeben. Auch hier stehen Wissen, Halbwissen, Gerüchte und Vermutungen einträchtig nebeneinander. Bei Politik geht es zudem nicht darum, in wissenschaftlicher Manier eine möglichst widerspruchsfreie, also „wahre“ Annäherung an jene Realität zu konstruieren, die auch existieren würde, wenn es keine solche Beschreibung gäbe. Politik will und soll gesellschaftliche Zustände zum Vorteil möglichst vieler Menschen verändern, nicht die Umstände der (unbefriedigenden) Situation darlegen. Erklärung wird nur insofern gebraucht, als man die Mechanismen und Abläufe gewünschter Veränderungen und ihre Konsequenzen verstehen muss. Angela Merkel ist für den Politikbetrieb eben nicht das, was Stephen Hawking für die Kosmologie ist. Politik ist kein Erklärungs-, sondern ein Entscheidungssystem.
Demokratie wiederum setzt auf Mehrheitsentscheidungen, schlicht weil die Mehrheit es so will. Das ist konsequent, wenn man den Nutzen von möglichst vielen Menschen im Auge hat. Daraus folgt aber nicht, dass der Mehrheitswille die Wahrheit wäre. „Über Wahrheiten lässt sich nicht abstimmen,“ äußerte Norbert Lammert schon vor Jahren. In Deutschland herrscht nach Ansicht des früheren Bundestagspräsidenten jedoch insofern eine gewisse „Verirrung politischer Kultur“, als aus der Mehrheitsentscheidung nachträglich der Nachweis der Richtigkeit der siegreichen Position hergeleitet werde.
Abweichende Meinungen nach einer verlorenen Abstimmung nicht mehr zu äußern und stattdessen zu schweigen, wird häufig als Ausdruck von Gemeinwohlorientierung oder politischer Disziplin, die es vermeidet, Unstimmigkeiten innerhalb einer Fraktion öffentlich zu machen, missverstanden. Dabei könnte es sich ebenfalls um einen grundlegenden Irrtum deutscher Politik und deutscher Mentalität handeln. Für die eigene Meinung zu streiten, tut dem Gemeinwohl oft mehr Gutes als schweigendes Schmollen in Unterordnung unter die jeweils vorherrschende politische Stimmungslage. Da wächst im Verborgenen der Groll, der sich irgendwann explosionsartig freisetzt. Und alle tun erstaunt.
Wer trotzdem lieber auf „die Wahrheit“ schwört, da Entscheidungen, die auf sie Bezug nehmen, eben nicht bei neuer politischer Wetterlage wieder weggestimmt werden können, sucht sein Heil bei Experten-Komitees. Meistens finden sich auch willfährige Gelehrte, die dazu bereit sind, einen Zirkel von „weisen Männern(und Frauen)“ zu errichten, um vermeintlich besseres, höheres und richtiges Wissen über den Normalverstand triumphieren zu lassen. DIE Wahrheit soll gefunden und angewendet werden, DIE Wahrheit soll herrschen.
Für Wissenschaftler müsste sich eine solche Propheten- oder Priesterrolle aufgrund ihrer wissenschaftlichen Gesinnung eigentlich verbieten. Die alleinige und ewig gültige Wahrheit kann es nicht geben. Wissenschaft besteht im permanenten Zweifel und dem Wettbewerb um die bessere Beschreibung unserer Erkenntnisse über die Realität. Eines gibt es nie: Gewissheit. Deshalb lässt sich Wissenschaft nicht einsetzen, um die politischen Prozesse des Interessenausgleichs zwischen verschiedenen Gruppen zu ersetzen. Wissenschaft ist ein intellektueller Wettstreit. Sie lässt sich deshalb nicht dazu benutzen, den Macht-Kampf zu vermeiden, der politischen Prozessen immanent ist. Nur weil die normalen Menschen nicht das „Richtige“, das „Wahre“ wollen, darf nicht die Rückkehr einer vordemokratischen Expertokratie betrieben werden.
Freiheit und Selbstbestimmung in einer offenen Gesellschaft verlangen danach, dass jeder Mann und jede Frau – also das Individuum – für sich alleine entscheiden darf, wie sie oder er das eigene Leben gestalten möchte. Hindernisse und Grenzen gibt es noch genug auf dem Weg zur Selbstentfaltung. Aber es sollten nicht schon am Anfang der Mut, die Kreativität, die Neugierde und die Lebensfreude von überholten Traditionen und aufgezwungenen Identitäten oder vermeintlich ewiger Wahrheit erdrückt werden.
Wir müssen für unsere Interessen und Überzeugungen streiten, mit allen, die anderer Meinung sind. Wir müssen klug sein und gut informiert – keine Frage. In der modernen Welt kann man seine Pflicht zum selbsterarbeiteten Wissen nicht mehr wegdelegieren. Aber Wissen ist auch ein Recht. Nur wer über die Welt Bescheid weiß, kann vernünftig streiten und muss nicht demütig kuschen.

 

 

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