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Meinungsfreiheit in der multipolaren Gesellschaft

Die Gedanken sind frei. Die Fantasie ist grenzenlos. Und ich kann zu allem eine Meinung haben. Die Gedanken mögen verwegen, träumerisch, romantisch oder abstoßend sein. Und meine Meinung kann sich demzufolge als fortschrittlich, liberal, verschroben oder altmodisch darstellen. Solange ich meine Meinung für mich behalte, hat damit niemand ein Problem. Für die Obrigkeit wäre eine solche Selbstbeschränkung in jeder Hinsicht erstrebenswert. Lässt es sich doch am effektivsten regieren und am effizientesten verwalten, wenn weder Zeit noch Energie auf die Abwehr ketzerischer Gedanken oder abweichender Meinungen verschwendet werden müssen. Aber auch die Mitmenschen interpretieren „Meinungsfreiheit“ mitunter als die Freiheit von der Zumutung durch die Meinung anderer. „Behalt Deine Meinung für Dich!“ ist eine oft genutzte Killer-Phrase, um sich mit unliebsamen Auffassungen nicht auseinandersetzen zu müssen.
Trotzdem – oder gerade deswegen? – ist die Meinungsfreiheit ein hohes politisches und gesellschaftliches Gut. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte , beschlossen von der UN-Generalversammlung im Dezember 1948, in der Konvention des Europarats zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten  sowie im Grundgesetz nehmen die Freiheit der Meinung – die Meinungsfreiheit – und die Freiheit, sie äußern zu dürfen, eine prominente Stellung ein. Sie werden als wichtige, unveräußerliche individuelle Rechtsgüter besonders geschützt. Diese verfasste Wertschätzung der Meinungsfreiheit lässt eine Frage offen: Was ist überhaupt eine Meinung?

Die Erfolgsgeschichte der Meinung
Bei den Griechen stand die Meinung (Doxa) nicht sonderlich hoch im Kurs. Sie galt allenfalls als Zwischending zwischen Nicht-Wissen und Wissen, war verbesserungsbedürftig, weil unvollständig und unbefriedigend. Die Philosophen suchten nach wahrem, unwiderlegbarem Wissen (Episteme), vorzugweise in der Form einer quasi-mathematischen Beweisführung, die jeglicher abweichenden Auffassung entzogen wäre. Heute sind wir – zumindest in westlichen Demokratien – allgemein der Auffassung, dass die Suche nach der großen „übermenschlichen“ Wahrheit, die jeglichen Meinungsstreit überflüssig machen würde, nicht funktionieren kann. So bequem eine „Einheitsmeinung“ (häufig als dem „Gemeinwohl“ dienend apostrophiert) oberflächlich gesehen sein mag, so wenig entspricht sie den Realitäten einer modernen Gesellschaft, die gerade im Politischen um Mehrheiten, nicht um Wahrheit ringt.  So gesehen ist zwar die Forderung, erst alle Fakten zu sammeln, bevor man urteilt – sich also eine Meinung bildet – durchaus vernünftig. Jedoch muss man nicht übermäßig konstruktivistisch argumentieren, um zu erkennen, dass die korrekte Abbildung der Realität (die ohnehin kaum zu ermitteln wäre) in den seltensten Fällen Ausgangspunkt einer Meinungsbildung ist.
Die Meinungsfreiheit, so wie wir sie heute praktizieren, ist ein Kind der Aufklärung, mit Wurzeln in der Reformation. Meinungsfreiheit begann ihre Karriere als Glaubens- und Gewissensfreiheit. Sie könnte als ein Emanzipationsprojekt einer neuen gegen die alte Elite interpretiert werden: Die Reformatoren protestierten gegen die klerikale Deutungshoheit über religiöse Texte. Als Gegenmodell wurde ein christlicher Fundamentalismus begründet, der es jedem (gebildeten) Menschen zur Aufgabe machte, die Bibel selbst zu studieren und sich eine eigene Meinung zu bilden. Womöglich gingen die Reformatoren davon aus, dass alle derartigen Studien wie von selbst zum gleichen Ergebnis führen würden – schließlich handelte es sich beim Lesestoff um die Offenbarung Gottes. Damit hätte sich die Meinungsfreiheit freilich von selbst erledigt, denn alle Gläubigen wären zur gleichen Einsicht gelangt.

Eine Zusammenfassung des langen Ringens gegen die Einmischung von Staat, Kirchen und Gesellschaft in die persönlichen Angelegenheiten findet sich bei John Stuart Mill. Für ihn basiert der eigentliche Kern der menschlichen Freiheit auf „Gewissensfreiheit im umfassendsten Sinn: Freiheit des Denkens und Fühlens, absolute Freiheit der Meinung und des Urteils, in allen Dingen, praktischen wie theoretischen, wissenschaftlichen, moralischen wie theologischen“. Und die „Freiheit, seine Meinung auszusprechen und zu veröffentlichen“ ist für Mill „von jener nicht zu trennen.“  

John Stuart Mill zufolge muss sich das Individuum zudem „wehren gegen die Bevormundung der herrschenden Meinung und des herrschenden Gefühls.“  Meinungsfreiheit ist somit die Freiheit, sich ungestraft nicht nur gegen institutionelle Übergriffe, sondern auch gegen die herrschende öffentliche und veröffentlichte Meinung aussprechen zu dürfen. Statt schweigend zu dulden, können wir dem Mainstream offen trotzen oder dem Zeitgeist zu entfliehen versuchen.

Meinungen – von harmlos bis existenziell
Meinungen spannen sich von harmlosen, trivialen Geschmacksurteilen persönlicher Vorlieben (und über Geschmack lässt sich bekanntlich gar nicht oder sehr trefflich streiten) bis hin zu existenziellen Glaubens- und Sinnfragen im Leben von Individuen und gesellschaftlichen Systemen.
Dies gibt uns einige Hinweise auf das Wesen der Meinung: Meinungen sind persönlich und subjektiv, sie urteilen. Meinungen haben immer etwas mit Alternativen zu tun. Alternativlosigkeit ist das Ende jeder Meinungsbildung. In der Mathematik ist es sinnlos, über die Wahrheit z.B. des Satzes des Pythagoras eine abweichende Meinung zu äußern, er ist genau so definiert. Im alltäglichen Leben und gerade in der Politik gibt es allerdings zu jeder Entscheidung A mindestens immer die eine Alternative Nicht-A. Jede behauptete Alternativlosigkeit wäre somit die Anmaßung des Wissens, dass Nicht-A nicht existiert oder zumindest nicht funktioniert. Die Meinung über eine Vermutung oder die Bedeutung von Beobachtungen und Tatsachen ist bis zu einem gewissen Grade stets kontingent. Das gilt sogar für die wissenschaftliche Hypothesenformulierung, die nichts anderes ist als die nach strengen, formalisierten Regeln vorgetragene fachlich begründete Meinung zu einem nicht-alltäglichen Sachverhalt. Sie kann so, sie könnte aber auch anders ausfallen. Meinungen werden begründet, man kann sie jedoch nicht beweisen. Sie fußen häufig genug auf Glaubenssystemen oder Ideologien. Wohl nicht zufällig wird die Meinungsfreiheit in der Liste der Menschenrechte in enger Nachbarschaft zur Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit angesiedelt. Meinungen spiegeln Interessen wider. Deshalb kommen unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Meinungen. Häufig erscheinen Meinungen als Abkürzungen in der Argumentationskette oder fassen eine Vielzahl von z.T. sogar widersprüchlichen – weil logisch nicht passenden – Gedanken zusammen. Sind Meinungen möglicherweise ein Ausdruck mehrwertiger Logik? Bringen sie Dinge zusammen, die nach den Regeln der zweiwertigen Logik nicht vereinbar sind, im täglichen Leben aber zusammen gedacht werden (müssen)? Meinungen können also unvernünftig erscheinen oder tatsächlich sein; auch dafür darf man Menschen nicht verurteilen, weil Meinungen eben sehr persönlich sind.

Freiheit: Meinen und Mitmachen
Drehen wir an dieser Stelle die Perspektive um: Weg von der Einflussnahme des sozialen Systems auf den Einzelnen hin zu seinen Einflussmöglichkeiten auf die Geschicke der Gemeinschaft, der er angehört. „Freiheiten im Sinne von Bürgerrechten sind das Ergebnis von Befreiung, aber sie sind keineswegs der tatsächliche Inhalt von Freiheit, deren Wesenskern der Zugang zum öffentlichen Bereich und die Beteiligung an den Regierungsgeschäften sind.“  Welche enorme politische Handlungsrelevanz eine kraftvoll vorgetragene Einzelmeinung erreichen kann, belegt das berühmt-berüchtigte „ceterum censeo Carthaginem esse delendam“ des römischen Politikers Marcus Porcius Cato. Seine Meinung wurde schließlich offizielle Politik. Ein zeitgenössisches Beispiel wäre Angela Merkels Mantra des Scheiterns Europas, falls der Euro scheitere. Oder ihr „Wir schaffen das!“ in der Flüchtlingskrise. Als Regierungschefin kommt ihrer politischen Meinung natürlich eine besondere Bedeutung zu, schließlich verfügt sie von Amts wegen eher über die notwendige Macht zur Durchsetzung als eine „einfache“ Politikerin oder ein „normaler“ Bürger. Hier offenbart sich ein wesentliches Kennzeichen politischer Meinungsäußerungen: Sie fordern ausdrücklich und explizit Handlungen der politischen Institutionen oder der Bürgerschaft. Die besondere Brisanz liegt darin, dass ihre Umsetzung die Freiheitsgrade aller Angehörigen der betreffenden Allgemeinheit verändern wird.

Meinungsvielfalt = Stoffsammlung für die Politik
In modernen Demokratien ist Meinungsfreiheit nach Auffassung des britischen Historikers Timothy Garton Ash für die gute Staatsführung notwendig; das leuchtet ohne weiteres ein. In einem Staatswesen, das von der Basis her begründet wird, sollte jede Regierung die Wünsche und Ansichten eben dieser Basis kennen, um gemäß der Interessen der Bürgerinnen und Bürger entscheiden zu können. Meinungsfreiheit ermöglicht also das Erkennen von Aufgaben und Problemen in ihrer ganzen Breite quer durch die Gesellschaft.

Meinungsfreiheit erleichtert es zudem, „mit der Vielfalt zu leben“ , die sich in den pluralistischen Gesellschaften – man könnte sie auch multipolare Gesellschaften nennen – herausgebildet hat. Und für Christoph Möllers dient „der Schutz der Meinungsfreiheit […] der Verflüssigung und Vervielfältigung der politischen Auseinandersetzung. […] Die Vielfalt des Diskurses ist zu sichern, […] nicht um Einheitlichkeit zu stiften, sondern um politische Allgemeinheit zu ermöglichen. (…) Der politische Prozess muss an die Fragmentierung der Öffentlichkeiten anschließen […].“  

Ohne die Begriffe „Meinung“ oder „Meinungsfreiheit“ zu benutzen, beschreibt Aladin El-Mafaalani in seinem Buch „Das Integrationsparadox“ genau diese Zersplitterung der Interessen und die daraus resultierende Meinungsvielfalt moderner, offener Gesellschaften: Statt einer „konfliktfreie(n) Gesellschaft in Harmonie und Gleichgewicht“  sieht er durch Migration und nachfolgende Emanzipation der Zuwanderer ein Mehr an Streit und Meinungsverschiedenheiten auf uns zukommen. Er prognostiziert mehr Aushandlungsprozesse, die erforderlich werden, weil verschiedene soziale Gruppen unterschiedliche Meinungen von gutem Leben, Sitte und Anstand haben. „Wenn Integration oder Inklusion oder Chancengleichheit gelingt, dann wird die Gesellschaft nicht homogener, nicht harmonischer und nicht konfliktfreier. Nein, das Gegenteil ist viel wahrscheinlicher. Die zentrale Folge gelungener Integration ist ein erhöhtes Konfliktpotenzial.“  Wie unbeliebt, weil unbequem solche Aushandlungsprozesse sind, zeigt sich in der mitunter erbittert geführten Diskussion um eine deutsche Leitkultur, vor allem über das, was nicht dazu gehören soll. Dieser Mechanismus gilt nicht nur für Zuwanderer, sondern für jede gesellschaftliche Gruppe, die für ihre spezifische Meinung Berücksichtigung einfordert. Die Zersplitterung der Gesellschaft in immer kleinere soziale Gebilde mit jeweils ganz eigenen, nun deutlich artikulierten Meinungen oder Bedürfnissen verursacht allerdings neue Probleme, z. B. bei der Durchsetzung sozialer und wirtschaftlicher Bürgerrechte oder bei der kulturellen Ab- und Ausgrenzung von Gruppen bis hin zu Identitätspolitiken.   

Die Meinungsfreiheit wächst – die Wahrheiten schwinden
Seit ein paar Jahren treten extreme Ansichten und Auffassungen, oft im Schutze der Pseudonymität, deutlich ins Licht der Öffentlichkeit. Dem Internet mit seinen diversen Plattformen ist es geschuldet, dass jede Person eine Meinung verbreiten kann, egal wie abwegig oder widerwärtig sie allen anderen erscheinen mag. Was als „Kommentar“ in manchen Internet-Foren oder Blogs zu lesen ist, würde niemals Eingang auf die Leserbriefseiten einer klassischen Zeitung finden. Die sichtbare Meinungsvielfalt ist definitiv gewachsen!

Das Quasi-Monopol der Gatekeeper traditioneller Medien zerbröselt: Die alten Mechanismen jener freiwilligen „Selbstzensur“, mit denen extreme Meinungsausreißer recht gut im Griff zu halten waren und in der veröffentlichten Meinung somit nicht stattfanden, wirken nicht mehr. Jahrzehntelang galten insbesondere politisch extrem rechte   Gruppen als nicht satisfaktionsfähig. Für radikal linkes Gedankengut galt das nicht in dieser Absolutheit. Die intellektuelle Brillanz etwa der Frankfurter Schule wurde allgemein anerkannt, Zweifel bestanden an der Alltagstauglichkeit dieser politischen Philosophie. All die rassistischen, faschistischen und sonstigen braunen Gedankensplitter und Vorurteile wurden möglichst gut verborgen, nur in kleinen Zirkeln oder am Stammtisch geäußert. Die Neonazis des ausgehenden 20. Jahrhunderts waren unappetitlich und taugten nicht als Kristallisationskerne politischer Meinungen für den Normalbürger. So (!) wollte man denn doch nicht sein. „Niemand, der bei klarem Verstand war, wollte mit den Nazis in Verbindung gebracht werden. Sogar die Ewiggestrigen, die dem üblen Hass immer noch anhingen, hatten zumindest verstanden, dass sie ihn verstecken mussten.“ Knapp und eindrucksvoll – für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, aber sicherlich gültig bis zur Jahrtausendwende – beschrieben vom Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder.

Wie wenig die deutsche Gesellschaft mit der neuen Meinungsvielfalt des 21. Jahrhunderts klarkommt, belegt ein Beispiel aus München: In der bayerischen Landeshauptstadt wollten Bürger über die transnationale politische Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) diskutieren, die den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will. Die Stadt weigerte sich, den Organisatoren einen Raum in stadteigenen Immobilien zu vermieten. Der Verwaltungsgerichtshof Bayern hat im Spätherbst 2020 für die Meinungsfreiheit entschieden: Das Raumverbot der Stadt München war nicht rechtens und der entsprechende Stadtratsbeschluss vom Dezember 2017 ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Meinungsfreiheit . Im Grunde sagt das Gericht: Wir müssen Meinungen aushalten.
Im Falle des BDS (aber nicht nur dort) gewinnt man den Eindruck, dass viele Bürgerinnen und Bürger ganz froh sind, wenn die Verwaltung solche Themen „abräumt“. Zugleich offenbart sich die Hilflosigkeit der Gesellschaft im Umgang mit (vermeintlich oder tatsächlich) „extremen“ Organisationen. Die Verwaltung wird instrumentalisiert, um unerwünschte Meinungsäußerungen einzudämmen. Das wird nicht zuletzt deshalb als erforderlich angesehen, weil die Politik den Bürgerinnen und Bürgern nicht zutraut, sich ein eigenes Urteil über BDS oder andere radikale Initiativen zu bilden. Die Gesellschaft – vertreten durch Politik und Verwaltung – will sich selbst vor zu viel Meinungsfreiheit bewahren, könnte man mit einer Prise Zynismus folgern. Doch diese „Feigheit vor dem Feind“ wird letztlich nicht erfolgreich sein: Von oben verordneten Schweigekartellen gelingt es „bestenfalls“ (aber was wäre eigentlich der beste Fall?), an der Oberfläche Ruhe zu schaffen. Der beargwöhnte ketzerische Sumpf wird nicht publik; er kann dann auch nicht in einem ordentlichen intellektuellen Disput widerlegt werden. Im Untergrund lebt er  weiter. Die Auseinandersetzung mit unverschämten oder unsäglichen Meinungen kann nur über die offensive Kommunikation besserer, weil kluger und menschenfreundlicher Meinungen gewonnen werden, nicht durch Wegschauen oder Weghören.

Offenbart sich hier ein grundsätzliches Problem? Sind die Bürgerinnen und Bürger im Deutschland des 21. Jahrhunderts womöglich schlecht darauf vorbereitet, mit extremen Diskussionen und Meinungen umzugehen, die „gutes Benehmen“ ignorieren oder gegen die bislang geltende, allgemein akzeptierte Staatsräson agitieren. Garton Ash verweist auf das Verbot der Holocaust-Leugnung in Deutschland als einer gelungenen Maßnahme, den Faschismus zu bannen.  Man könnte aber einwenden, dass diese gut gemeinten Beschränkungen uns gegen den alltäglichen Rassismus und den wieder aufkeimenden Nationalismus in seinen neuen aggressiven Varianten argumentativ wehrlos werden ließen. Die Verteidigung unserer Werte und Vorstellungen, die das Fundament einer modernen, demokratischen und freien Gesellschaft bilden, haben wir nicht trainiert.

Zivilisierter Umgang mit Meinungen
Nach Auffassung von Timothy Garton Ash brauchen wir sogar noch „mehr Meinungsfreiheit von besserer Qualität, um in dieser Welt-als-Großstadt gut zusammenzuleben.“  Das klingt anstrengend. Vor allem die angemahnte bessere Qualität dürfte viele Akteure deutlich herausfordern. Die häufig unzivilisierte, oftmals menschenverachtende Form der Meinungsäußerung in sozialen Medien ist sicherlich kein Ruhmesblatt menschlicher Kommunikation . Nicht alles, was man sagen darf, muss man auch sagen. Und schon gar nicht in jeder nur denkbaren miserablen Art und Weise. Umgekehrt darf auch nicht jeder gleich tödlich beleidigt sein, wenn ihm etwas gegen den Strich geht, was andere meinen. Deshalb meine Kennzeichnung unserer Gegenwartsgesellschaften als multipolar: Fast jeder Meinungsunterschied wird irgendwo in den Weiten der Debattenräume extrem polarisiert. Positionen werden als unvereinbar absolut gesetzt. Unversöhnlich stehen sich feindliche Blöcke gegenüber. Aber man darf die Auseinandersetzung deswegen nicht scheuen. Die kommunikative Herausforderung beschreibt Garton Ash so: „Auf welchen sozialen, journalistischen, bildungsmäßigen, künstlerischen und anderen Wegen lässt sich erreichen, dass die freie Rede fruchtbar ist, indem sie kreative Provokation ermöglicht, ohne Leben zu zerstören und Gesellschaften zu spalten?“   

Als Weg plädiert Garton Ash für eine „robuste Zivilität“. Wir sollten frei reden „ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen und ohne Ausflüchte zu suchen oder Selbstzensur zu üben: Wir müssen in der Lage sein, freimütige und sogar anstößige Äußerungen […] zu ertragen.“  . Ertragen bedeutet aber keineswegs mittragen oder gutheißen. Im Rahmen der Menschenrechte muss jeder akzeptieren, dass andere Menschen eine Meinung vertreten; er oder sie muss keineswegs akzeptieren, was die anderen da von sich geben. In diesem Kontext darf auch die abstrakte Verteidigung der Freiheit, dass jedermann seine Meinung ungehindert äußern darf, niemals als Zustimmung zum Inhalt seiner Aussagen missinterpretiert werden. Das ist eigentlich selbstverständlich, wird aber in der gegenwärtigen, hitzigen Diskussions(un)kultur allzu häufig nicht beachtet.

Die Inhalte von Meinungsäußerungen, Glaubenssystemen oder Ideologien müssen sich dem Urteil aller Bürger stellen. Niemand muss schweigen. Dabei kann die Ablehnung nicht akzeptierter Meinungen sogar sehr deutlich ausfallen, solange die Kritik in einer zivilisierten Weise artikuliert wird. Pointiert und deutlich schärfer argumentiert Carlo Strenger, denn kein Mensch könne „authentisch respektieren, was er in Wahrheit für unmoralisch, irrational oder ganz einfach dumm hält.“  Er plädiert für eine „zivilisierte Verachtung als eine Haltung, aus der heraus Menschen Glaubenssätze, Verhaltensweisen und Wertsetzungen verachten dürfen oder gar sollen, wenn sie diese aus substanziellen Gründen für irrational, unmoralisch, inkohärent oder unmenschlich halten.“  Nicht verhandelbare Bedingung bleibt für Strenger indes, dass jeder Diskutant sich dem „Prinzip der verantwortlichen Meinungsbildung“  verpflichtet und die zivilisierte Verachtung niemals gegen Menschen gerichtet ist. Das muss unsere tägliche Übung in Sachen Meinungsfreiheit sein: wir halten Menschen und Meinungen strikt auseinander. Menschen haben eine Meinung, aber Meinungen „besitzen“ nicht den Menschen; die Person kann nicht als Objekt ihrer Äußerungen identifiziert werden. Mit der inhaltlichen Ablehnung einer Meinung darf ich deshalb niemals den Menschen, der sie äußert, verurteilen – auch wenn das mitunter schwierig ist. Das komplexe Feld einer möglichen strafrechtlichen Würdigung von „verhetzenden“ oder anderen strafbaren Meinungsäußerungen bleibt unberücksichtigt. Was justiziabel ist, wird zu verschiedenen Zeiten und/oder in verschiedenen Staaten ganz unterschiedlich definiert.

Meinungsfreiheit ist mitnichten ein Naturrecht
Die Meinungsfreiheit ist in den westlichen Demokratien eine zentrale Freiheit jedes Menschen. Aber selbstverständlich ist sie nicht. Anders als die Herleitung der „Naturrechte“ in der Aufklärung nahelegen mag, ist die Meinungsfreiheit alles andere als natürlich und dauerhaft. Im Gegenteil: Über einen langen Zeitraum wurde sie Machthabern und Eliten abgetrotzt. Meinungsfreiheit ist – wie alle anderen Menschenrechte auch – das Ergebnis der zunehmenden Zivilisierung des Menschen und der von ihm gebildeten Gesellschaften. „‚Zivilisation‘ bezeichnet einen Prozeß oder mindestens das Resultat eines Prozesses. Es bezieht sich auf etwas, das ständig in Bewegung ist, das ständig ‚vorwärts‘ geht“, schrieb der Soziologe Norbert Elias. So ein Prozess kann sich aber auch umkehren und rückwärtsgehen. Wir erleben es gerade in nicht wenigen Ländern der Welt.   
Meinungsfreiheit ist und bleibt eine Errungenschaft der Moderne! Unbequemer Weise können wir uns auf dem einmal erreichten Zivilisationsstand nicht ausruhen. Wir müssen ganz im Gegenteil erkennen, dass die Meinungsfreiheit fortlaufend aufs Neue von allen erobert, für jede und jeden verteidigt und gegenseitig gewährt werden muss.

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