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Privatheit in Zeiten des Voyeurismus

Buchbesprechung
Schaar, Peter: Das Ende der Privatsphäre. Der Weg in die Überwachungsgesellschaft. München 2007
Sofsky, Wolfgang: Verteidigung des Privaten. München 2007

von Michael Bross

Terrorismus vernichtet die Privatsphäre der Menschen. Terror entfaltet seine Kraft im Besonderen durch die öffentliche Aufmerksamkeit, die seinen Untaten zuteil wird. Die Gewalttäter und ihre Hintermänner planen ihre hinterhältigen Gräuel im Verborgenen und nützen zugleich die propagandistischen Möglichkeiten der medialen Plattformen des Informationszeitalters. Gesellschaft und Staat reagieren darauf, indem der letzte Winkel der Lebenswelt aller Bürger ausgeleuchtet und überwacht werden soll. Damit wird die Abwehr des Terrors im Namen des Schutzes der freiheitlichen Gesellschaft zum Anlass und zur Ursache, einen zentralen Wert dieser Gesellschaftsform zu demontieren: die Privatheit.

Der Niedergang der Privatsphäre speist sich jedoch nicht nur aus den vermeintlichen Notwendigkeiten der Terrorabwehr. Der Bürger schätzt die neuen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters mit seinen Chancen einer eitlen Selbstdarstellung. „Big Brother", so Peter Schaar, Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, „sind wir alle ..., und wir beobachten uns selbst und finden dies auch noch interessant". Freiwillig opfern moderne Zeitgenossen einen Teil ihrer Privatsphäre, geben z.B. im Internet „ohne jeden Zwang ihre Persönlichkeitsprofile einer weltweiten Öffentlichkeit gegenüber" preis. Die Datenspuren, die jeder Nutzer dabei hinterlässt, sind prinzipiell endlos rekonstruierbar. Es gibt „im Netz kein Recht auf Vergessen-Werden", warnt Peter Schaar.

Ihre Ursache findet diese Unbekümmertheit beim Umgang mit privaten Informationen in einem Zeitgeist, der „Bekanntheit höher schätzt als Privatheit", begründet der Soziologie-Professor Wolfgang Sofsky solche Tendenzen. Damit spielten die Bürger dem Staat in die Hände, denn jeder Machtapparat wolle „die Menschen in freundliche Nachbarn und fügsame Untertanen" verwandeln. „Niemals hat sich der Staat mit der Sicherung der Freiheit begnügt. Stets war er auf die Ausdehnung seiner Herrschaft aus, und sei es unter dem Vorwand, die Gesellschaft sittlich verbessern zu wollen", kritisiert Sofsky jegliche staatliche Tätigkeit.

Wir schaffen die Privatsphäre ab, um die Freiheit zu erhalten

Erst die technischen Möglichkeiten der modernen Datensammlung und Überwachung freilich verhelfen diesem generellen Machtanspruch des Staates über seine Bürger zum Durchbruch. Die Informationsgesellschaft bedroht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, weil die Bürger wegen der ständigen „Erhebung, Speicherung, Übermittlung und Auswertung persönlicher Daten" die Verfügungsmacht über die von ihnen preisgegebenen Informationen verlieren, urteilt Schaar. Die persönliche Informationspolitik jedes Menschen, der über sich natürlich nur Vorteilhaftes in Umlauf sehen will, wird so nachhaltig unterlaufen. In einem Wohlfahrtsstaat, in dem ein Großteil der Menschen zudem in irgendeiner Weise von den Institutionen der Bürokratie abhängig ist, wird in der Tat alles Private politisch. Das Wissen der Sozialbürokratie über die Lebensumstände ihrer „Staatskunden" sei umfassender als das von Polizei oder Geheimdiensten, erinnert Schaar. Und bei Sofsky findet man passend dazu die politische Rechtfertigung: Im modernen Fürsorgestaat sei der Informationsbedarf der Verwaltung deshalb ungleich höher als in anderen Staatsformen, weil jeder genau das bekommen solle, was seinem Bedarf entspricht. Individuelle Gerechtigkeit verlange nach der exakten „Durchleuchtung privater Details".

Peter Schaar bemängelt die geradezu naive Gedankenlosigkeit der Gesellschaft, die persönliche Daten massenhaft speichern lässt und teilweise aus der Hand gibt, ohne absehen zu können, welche Rückschlüsse über Individuen daraus bei zukünftigem wissenschaftlichem Fortschritt noch extrahiert werden. Beispielsweise werden im elektronischen Reisepass der EU die Fotographien in einem Datenformat gespeichert, das für die eigentliche Identifikation des Passinhabers gar nicht benötigt wird. Der Pass offenbart zusätzliche Informationen über die Person, vermutlich erlaubt er sogar Rückschlüsse auf deren Gesundheitszustand. Noch weitergehend sind die Bedenken des Datenschutzbeauftragten beim Thema „genetischer Fingerabdruck", da hier ja auch Aussagen über verwandte Personen abgeleitet werden können.

Die Vermutung liegt nahe, dass niemand – auch die Behörden selbst nicht – mehr nachvollziehen kann, wo auf der Welt welche Daten gespeichert sind. Und der Bürger kann keinesfalls darauf vertrauen, dass seine Daten nicht doch genau jenen kriminellen Elementen zugänglich sind, die durch vermeintlich modernste Sicherheitstechnik an Reisen um die Welt gehindert werden sollen.

Da die Informationsgesellschaft nicht aufgehalten werden kann, der Weg in den Überwachungsstaat aber vermieden werden muss, sind – hier muss man Peter Schaar uneingeschränkt zustimmen – zwei Lernaufgaben zu bewältigen: Erstens müssen die Menschen begreifen, was mit ihren Daten geschieht. Zweitens muss der Schutz gegen Registrierung, Verfälschung und Manipulation privater Daten gewährleistet werden, eine „wichtige, aber leider völlig vernachlässigte Aufgabe des Staates in der Informationsgesellschaft". Eine Aufgabe, für die sich alle Bürger einsetzen müssten, denn: „Der Schutz der Privatsphäre ist viel zu wichtig, um ihn den ‚Fachleuten' ... zu überlassen" – schreibt Peter Schaar.

Voyeure mit Dienstausweis schleifen die Zitadelle der Privatheit

Für Wolfgang Sofsky dagegen geht die „Verteidigung des Privaten ... weit über den Datenschutz hinaus". Er sieht darin eine „Aufgabe jeder Zivilisation". Mit Blick auf die Diskussionen um den Datenschutz, die Erweiterung von polizeilichen Befugnissen oder die Anmaßungen der Ermittlungsbehörden greife jeglicher Protest zu kurz. Sich auf Diskussionen über gesetzliche Beschränkungen der Privatsphäre einzulassen, akzeptiere bereits den „Niedergang des Privaten" in gewissem Umfange, statt Privatheit als die grundsätzliche Freiheit „des Glaubens und der Gedanken, ... vor unerbetener Berührung und Belästigung, vor den Zwängen der Gemeinschaft, der Gesellschaft und des Staates" umfassend und mit allen Kräften zu verteidigen. Folgerichtig greift Wolfgang Sofsky in seiner Streitschrift auch weit über den Datenschutz hinaus: In einem radikal liberalen Rundumschlag geißelt er auch das Instrument der Verbote in einer Gesellschaft, die Eigentumskritik zum Zwecke der Gleichmacherei als „Vorliebe von Priestern, Intellektuellen und Agitatoren" oder die Besteuerung von Arbeitseinkommen als verdeckte Zwangsarbeit.

Weniger grundsätzlich fordert Peter Schaar die Entwicklung einer „globalen Ethik des Informationszeitalters" zum Schutz der individuellen Selbstbestimmung. Die Grundfrage sei dabei, wie „unsere Gesellschaft mit den Techniken und den dabei entstehenden persönlichen Datenspuren umgehen" wolle. Und eine globale Informations-Ethik müsse auch das Ausmaß der Kooperation von Unternehmen mit politischen Regimes regeln, die nicht westlichen Standards im Hinblick auf Menschenrechte genügen.

Wie notwendig eine intensive Befassung jedes Menschen mit dem umfassend definierten Datenschutz und der informationellen Selbstbestimmung ist, wird dem Leser klar, der sich durch Peter Schaars detaillierte Gruselliste der Überwachung hindurchgelesen hat: Internet- und Telefonüberwachung, Funkchips und intelligentes Haus, Videokameras auf Bahnhöfen, an öffentlichen Plätzen und natürlich an der Autobahn, die schöne neue Welt von Genetik und Biometrie, e-Government; in der Privatwirtschaft ergänzt durch Marketingdaten und Schufa-Auskünfte. „Noch besteht die Chance", macht uns der oberste deutsche Datenschützer Hoffnung, „dass unsere Gesellschaft diesem digitalen ‚Frankenstein-Erlebnis' einen Riegel vorschiebt. Es ist höchste Zeit, dass wir aufwachen."

Dem ist nichts hinzuzufügen...

Eine leicht veränderte Fassung dieser Buchbesprechungen erschien in novo argumente für den Fortschritt Nr. 94, Mai-Juni 2008

 

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