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Alles verstehen

 ... heißt alles verzeihen. Gilt das auch für die große Weltpolitik?

von Michael Bross, Frankfurt am Main

Alles verstehen, heißt alles verzeihen. Die Motive der anderen zu verstehen und intellektuell nachvollziehen zu können, ist auch und gerade in der Politik sicherlich keine schlechte Voraussetzung für gute Arbeit. Aber bedeutet dies, auch den eigenen Standpunkt relativieren zu müssen? Muss man alles gutheißen und akzeptieren, was andere tun? Das westliche System von Aufklärung und Demokratie, Marktwirtschaft und Freihandel ist ein erfolgreiches System, das persönliche Freiheit und Entfaltung ermöglicht, Wohlstand und Sicherheit schafft.

Viele Menschen, gerade in autokratische regierten Staaten oder intoleranten Gesellschaften würden gerne dem westlichen Modell folgen und so leben wie wir. Und darin liegt auch die harsche Reaktion vieler politischer oder religiöser Führer begründet: In ihren Augen korrumpiert die Dekadenz des Westens die Hoheit bzw. Reinheit der eigenen gesellschaftlichen Werte und gefährdet damit letztlich Basis für die eigene Machtausübung. Also werden der Westen und seine liberalen Werte diskreditiert, versuchen die herrschenden Cliquen, die eigene Bevölkerung gegen den „Virus Individualität" und die „Krankheit Demokratie" zu immunisieren. Der Triumph der Freiheit ist deshalb oftmals langsam und beschwerlich: Freiheitliche Gesellschaften brauchen immer viel Geduld und einen langen Atem, um mit Nachsicht und Überzeugungskraft die westlich-liberalen Werte durchzusetzen. Deshalb müssen wir in Europa für unsere eigenen Werte werben und dürfen nicht voraussetzen, dass sie quasi Selbstläufer sind.

Schauen wir in den fernen Osten. Man kann ja verstehen, dass insbesondere die Chinesen und Inder ihre Volkswirtschaften entwickeln wollen, nachdem sie aus ideologischen Gründen mehr als eine Generation stehen geblieben sind, sich hinter Mauern vom Rest der Welt abgeschottet haben. Und sie wollen möglichst schnell viel erreichen, auch das ist nur zu verständlich. Knapp zwei Milliarden Menschen existieren nämlich auf einem Lebensstandard, den man eigentlich nicht Standard nennen sollte. Deshalb tun diese Staaten, was vor ihnen alle Volkswirtschaften taten, die zur wirtschaftlichen Aufholjagd ansetzten: Sie locken mit guten Bedingungen und billigen Arbeitskräften. China und Indien drängen auf den Weltmarkt, erobern mit preiswerten Dienstleistungen und Gütern Zug um Zug immer größere Marktsegmente.

Neu und für den Westen ungewohnt ist die Dimension, in der dies geschieht. Problematisch ist zudem, dass Geschäftspartner vor allem in China damit rechnen müssen, skrupellos kopiert zu werden. Der nächste Transrapid – ob der wohl zum halben Preis aus China exportiert werden wird? Ermahnungen, sich doch bitte an die internationalen Patentregeln und Abkommen, an Grundrechte oder Verträge zu halten, werden von den stets lächelnden Herren aus dem Reich der Mitte geflissentlich übersehen. Was insbesondere beim Thema Menschenrechte zu oft geschieht. Aber auch in diesen Ländern, die erst am Anfang ihrer wirtschaftlichen Entwicklung stehen, werden die Arbeiter eines Tages für ihre Rechte auf- und einstehen. Sie werden Gewerkschaften gründen, Kinderarbeit wird verschwinden. Diese Evolution ist nicht aufzuhalten. Wenn die Konsumenten im Westen allerdings die ökonomische Ausbeutung weiter unterstützen, um sich durch billigen Konsum darin zu versichern, dass ihr eigenes, von der Globalisierung bereits überholtes Anspruchsniveau noch aufrechtzuerhalten wäre, dauert die Emanzipation in den sweat shops Asiens eben ein wenig länger.

Als Reaktion auf die asiatische Herausforderung werden im Westen jetzt Gedankenspiele forciert, engere (Handels-)Bande zwischen den USA und Europa zu knüpfen. Manchmal wird schon laut eine europäisch-amerikanische Freihandelszone gefordert, um dem „Schwinden ihrer jeweiligen Marktmacht durch die Addition der Kräfte" zu begegnen, wie es der Spiegel-Journalist Gabor Steingart in seinem Buch „Weltkrieg um Wohlstand" formuliert. Dem ließe sich spitz entgegenhalten, dass das Zusammengehen von zwei Fußkranken noch selten die Marschgeschwindigkeit erhöht hat, wie viele zweifelhaft erfolgreiche Firmenfusionen belegen. Eine solche Abschottung behindert zudem massiv den Austausch von Gütern und Ideen mit den Entwicklungsländern, hilft also in keiner Weise bei der weltweiten Durchsetzung eines marktwirtschaftlichen, demokratischen Gesellschaftsmodells. Eine transatlantische Festung würde sich jeglicher Chancen begeben, als freiheitliches Vorbild für den Rest der Welt zu wirken. Wer sich einmauert, „beweist" doch nur, dass er entweder Angst hat oder etwas verbergen will.

Und ganz ohne Risiken wäre eine stärkere Anlehnung an den großen Bruder USA auch nicht: Allenthalben wird über die schleichende Amerikanisierung des Rechts lamentiert, werden amerikanische Kapitalgesellschaften als Heuschrecken gefürchtet. Allzu willfährig verordnete die EU den Transfer von Passagierdaten an das Departement of Homeland Security der USA, im Grunde gegen geltendes europäisches und nationales Recht. Was die Terroristen mit ihren Bomben nicht geschafft haben, erledigen westliche Sicherheitsbehörden für sie: Jeder Reisende auf der ganzen Welt wird laufend an die politischen Wahnideen dieser orientalischen Hasardeure erinnert. Im Marketing ist dies der meist unerreichbare Gipfel aller Verkaufsanstrengungen, wenn andere – hier sogar die Hüter der Ordnung der Gegenseite – die Vermarktung des eigenen Produkts in einer solch perfekten Weise unterstützen!

Was uns zur nächsten großen Herausforderung am Beginn des 21. Jahrhunderts bringt: das Wiedererstarken des religiösen Fanatismus. Den Vorreiter machen hier gegenwärtig Scharfmacher in der islamischen Welt, die die religiösen Gefühle gläubiger Menschen für ihre politischen Ränkespiele ausnutzen und so den Weg auch für Terroristen bereiten. Es geht dabei natürlich nicht um die Verbreitung des richtigen Glaubens im Westen. Es geht um Macht über Informationsströme und die Deutungshoheit bei für die Potentaten peinlichen innenpolitischen Themen wie Menschen- und Frauenrechte. Meinungsfreiheit – wie sie der Westen kennt – unterhöhlt den Einfluss der herrschenden Cliquen. Statt sich jedoch mit den miserablen Zuständen im eigenen Land zu befassen, wirft man den Europäern vor, den Islam zu beleidigen und fordert die Beschneidung der Meinungsfreiheit hierzulande. Wie wird der Westen auf dieses Ablenkungsmanöver reagieren? Bislang mit einer hilflosen Mischung aus Beschwichtigungen und der Selbstbezichtigung, dass wir Europäer an den Minderwertigkeitsgefühlen der Bewohner des Nahen Ostens eine (Teil-)Schuld trügen. Paradebeispiel war die Affäre um die Mohammed-Karikaturen, die in Dänemark veröffentlicht und in der ganzen Welt zum Stein des Anstoßes wurden. Die Pressefreiheit wurde von den Regierungen der westlichen Welt nicht allzu vehement verteidigt, als aus dem Nahen Osten heftige Zensurforderungen laut wurden. Leisetreten war angesagt, als die ersten Fahnen brannten.

Man muss ja nicht gleich einen christlichen Gegenfundamentalismus bemühen, der auf seine Weise genauso intolerant ist wie die Haltung der politischen Minenleger in Teilen des Nahen Ostens. Aber ein bisschen mehr Einstehen für das, was Europa aus- und auch einzigartig macht, wäre schon angebracht: Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft, Meinungs- und Pressefreiheit, Freizügigkeit, Individualismus, Bildungschancen und kulturelle Vielfalt ... Diese Wertvorstellungen mögen nicht universell anerkannt sein, aber sie sind westlich-liberal. Es sind die Werte, auf denen jene Gesellschaften fußen, die sich als westliche Demokratien verstehen. Sie haben – bei aller Kritik im Einzelnen und auch, wenn es zum Teil sehr lange dauerte – ihren Bürgern Freiheit und Wohlstand gebracht. Weniger Einknicken und willfähriges Ja-Sagen, sondern aufrechte Beharrlichkeit und geduldige Konsequenz täten dem alten Kontinent deshalb manchmal ganz gut, wenn es darum geht, diese Werte zu verteidigen.

Eine gekürzte Version dieses Beitrages erschien in der Zeitschrift "liberal - Vierteljahreshefte für Politik und Kultur" 2/2007 

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